Gustave Doré in the Tradition of London-Reportage I: Hell Circles of the Metropolis


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1)  Einleitung

2) Die Hölle London


1) Einleitung

An dem Porträt der britischen Metropole London. A Pilgrimage hat Gustav Doré auf Einladung seines Freundes, des englischen Publizisten Blanchard Jerrold, insgesamt fünf Jahre lang gearbeitet von der ersten Projektierung 1867 bis zur Drucklegung, die erst Ende 1872 abgeschlossen war.(1) Auch im angelsächsischen Sprachbereich stand Doré damals auf dem Zenit seiner beispiellosen Karriere. „Es wäre schwierig gewesen, ein Haus in London zu betreten, wo man das Wort Kunst korrekt buchstabieren konnte, in dem sich nicht eines von Dorés grossen illustrierten Klassikern gefunden hätte“, bemerkte Blanche Roosevelt 1885 in ihrer Biographie des Künstlers. (2) Trotzdem erfuhren die englische und auch die nachfolgende französische Ausgabe dieser Großstadtreportage jeweils nur eine einzige Auflage, deren Höhe sich, gemessen an den Verkaufszahlen seiner mythologischen Illustrationswerke, eher bescheiden ausnahm. Auch die Kritiken, die  London. A Pilgrimage erntete, waren alles andere als erfreulich. (3) Dabei vermochte es gerade dieses vergleichsweise unpopuläre Werk mit seinen eindrücklichen Schilderungen von urbanen Elendsquartieren das Image des Erfolgsillustrators, das durch seine schablonisierte Fließbandproduktion lädiert war, posthum einigermassen zu konsolidieren. Vor allem in Künstler – und Intellektuellenkreisen wurde es bewundert. Zu den Fans zählten Vincent van Gogh, der sich in seinen Briefen als glühender Apologet Dorés zu erkennen gab, Max Klinger, Käthe Kollwitz und Jack London. Wiederentdeckt wurde das Werk allerdings erst in den vierziger Jahren des neuen Jahrhunderts. Seither gibt es kaum eine Publikation über die Pauperismus-Problematik und die Klassenkonflikte des 19. Jhds, die nicht bevorzugt mit Abbildungen aus Dorés London. A Pilgrimage illustriert ist, wie überhaupt das mediale Nachbild des viktorianischen London mittlerweile ganz wesentlich von den Anschauungen dieser London-Reportage geprägt ist. (4)

Die große posthume Verbreitung hat Kritiker und Rezensenten allerdings auch immer wieder dazu verführt, dem Werk im Feld der grafischen Berichterstattung einen überproportionalen innovatorischen Rang zuzuschreiben. Als Beispiel dafür mag die Einschätzung von Konrad Farner gelten, der 1962 in London. A Pilgrimage den Anfang der modernen Bildreportage zu erkennen glaubte. (5) Und obgleich die Quellenlage mittlerweile viel transparenter ist, (6) ließ es sich Henning Ritter in seinem 2007 publizierten Essay Die Gegenwart als Tatort nicht nehmen, in Dorés Werk die Geburtsstunde eines „neuen Sujets“ von großstädtischen „Elendsbildern“ zu feiern, das die Bildpublizistik revolutioniert habe. (7) Es gibt zwar hinreichend Gründe, Dorés opulentem Illustrationswerk Lorbeerkränze zu flechten, am wenigsten allerdings für eine Pionierleistung auf dem dokumentarischen Feld. In seinen Beschreibungen urbanen Elends griff Doré nämlich weitgehend auf vorgeprägte Klischees zurück. London. A Pilgrimage markiert weniger einen Beginn von grafischer Sozialreportage im 19. Jhd, sondern vielmehr ihr Ende. Die Innovation lag nicht in der Art der Deskription, sondern in einer abstrahierenden Verklärung dieses journalistischen Impulses, in einer Transzendierung von Bildreportage, die das Thema der großstädtischen Lebenswelt verfügbar gemacht hat für die subjektivistischen Zugriffe der Kunst des 20. Jahrhunderts, für die Mystifizierungen urbaner Existenz in den Bildwelten des Expressionsmus, des Futurismus und der Neuen Sachlichkeit.


Gustave Doré / Blanchard Jerrold: London: A Pilgrimage, London, 1872 (MePri-Coll.)

In der Konzeption von London. A Pilgrimage konnte Doré auf eine lange und facettenreiche Tradition von London-Reportagen zurückgreifen. Die britische Metrople war seit Beginn des 18. Jhds zum Zentrum des Welthandels aufgestiegen, und so läßt sich an den Darstellungsmodi dieser Kapitale der frühsten Industrienation wie in einem Retortenversuch auch die Entwicklungsgeschichte eines urbanen Selbstverständnisses studieren. Dieses Bild von Metropole, das sich allmählich herausbildete, war nicht autochthon geprägt, sondern setzte sich bemerkenswerter Weise von Anfang an vor allem aus den Perspektiven von Fremden zusammen, von Besuchern und Immigranten. Den Reigen dieser London-Darstellungen eröffneten die aus den Niederlanden stammenden Brüder Hogenberg mit Stadtplänen und Porträtdarstellungen zu Mitte des 16. Jhds.(8) Der Tscheche Wencleslaus Hollar knüpfte erst ein Jahrhundert später mit einem umfangreichen Radierwerk daran an. Danach hat sich die Repräsentanz der britischen Metropole vor allem im Dialog mit dem konkurrierenden Paris weiterentwickelt. (9) Es waren vornehmlich französische Künstler, die sich als Dokumentaristen Londons hervortaten: Marcellus Lauron, Jean Louis Boitard, Théodore Géricault, Auguste Charles Pugin, Paul Gavarni, Henri Durand-Brager, Paul Renouard und eben Gustave Doré.

Der gallische Blick über den Kanal war extremen ideologischen Schwankungen unterworfen. Zu Zeiten des Absolutismus wurde er vor allem von einer Bewunderung für die fortschrittlichen bürgerlichen Freiheitsrechte in England getragen, in die sich allerdings nach den Unterbrechungen der Napoleonischen Kriege eine zunehmende Kritik an der auseinanderdriftenden Kluft im sozialen Gefüge des insularen Nachbarn einmischte. Daß diese Kritik, die sich in detaillierten und oft grotesken Beschreibungen einer sich epidemisch ausbreitenden Sozialmisere erging, beim Pariser Publikum auf große Zustimmung stieß, legt den Verdacht nah, daß damit wohl auch ein Verlust der nationalen ökonomischen und kulturellen Hegemonie kompenseniert werden sollte.

Andererseits traf wohl auch die Vermutung der Brüder Goncourt zu, dass die empörte britische Zurückweisung einer solchen “fortgesetzten Entschleierung des Elends” weniger die grafischen und journalistischen Qualitäten betraf, sondern in erster Linie einem verletzten Nationalstolz geschuldet war.(10) Auch die Reaktionen der britischen Presse auf Gustave Dorés Reise in das Herz der Finsternis eines entfesselten Industriekapitalismus waren dementsprechend. (11)

2) Die Hölle London

Der Eindruck, der sich den Einwohnern der Armenviertel von Whitechapel, Shadwell und Shoreditch beim Anblick eines Trios vermittelte, das sich nachts durch die engen Winkel ihrer Quartiere bewegte, muss einigermaßen kurios gewesen sein. Obgleich sich die Drei durch eine verschlissene Bekleidung zu tarnen versuchten, werden sie sich  durch ihre Gangart und ihren gesamten Habitus als eine Partie von Gentlemen zu erkennen gegeben haben, die sich auf der Suche nach Abenteuern in das unheimliche Territorium des East End verirrt hatten, in eine fremde labyrintische Zone, die in den rassistischen Termini der Zeit von Nomaden bevölkert waren, von street arabs und anderen gefährlichen Wilden. Dabei war der Anblick einer solchen Exkursion dort keine Seltenheit. Als Slumming bezeichnete man diese neugierigen Streifzüge durch die Elendsquartiere. Im späten viktorianischen England waren sie bald so populär, daß es organisierte Busfahrten gab, mit denen man auf innerkoloniale Safaritouren durchs East End gehen konnte. (12)

Die Expedition dieses Trios war hingegen selbst organisiert. Sie bestand aus Gustave Doré, seinem englische Gastgeber Blanchard Jerrold und einem weiteren Begleiter, dessen Identität nicht preisgegeben wurde. Jerrold merkte in seinem Begleittext nur an, daß er über die nötige Portion Mut verfügt habe, um sich den Gefahren des Großstadtdschungels zu stellen. (13)  Flankiert wurde die Gruppe von zwei Detektiven von Scotland Yard, die als Begleitschutz in Zivil in einigem Abstand folgten.

Whitechapel and Thereabouts (Doré, Jerrold and a Third Man), London: A Pilgrimage, London 1872 (MePri-Coll.)

Doré hatte seinem Hang zur theatralen Inszenierung nachgegeben und erschien in seiner Bill Skyes-artigen Aufmachung für den Geschmack seiner Begleiter etwas überkostümiert. (14)  Jerrold beschrieb den berühmten Grafiker als einen sehr schüchternen Charakter, von einer geradezu „morbiden“ Empfindsamkeit. (15) Nur wenn er sich unbeobachtet fühlte war er in der Lage, in sein Notizbuch zu skizzieren. (16) Näherte sich Jemand, dann musste ihm Jerrold  durch seinen aufgeschlagenen Mantel Deckung bieten. Für den Job eines grafischen Reporters war Doré offensichtlich gänzlich ungeeignet. Dabei hatte die Berichterstattung aus Katastophen- und Kriegsgebieten schon früh zu seinen bevorzugten illustratorischen Arbeitsfeldern gehört. Seine Schlachtenszenen vom Krimkrieg und vom Sardinischen Krieg waren in den führenden internationalen Illustrierten abgedruckt gewesen. Als sogenannter homeartist hatte er dabei allerdings in der Regel auf Fremdmaterial von Militärzeichnern oder von special artists, die vor Ort arbeiteten, zurückgegriffen. Oft genug waren seine Schilderungen allerdings freie Erfindungen im Stil der Historienmalerei der Zeit. Nicht die unmittelbare grafische Niederschrift war sein Geschäft, sondern das visuelle Memorieren. (17) Bei seinen Reiseillustrationen genügten ihm, wie auch im Fall des London-Reports, flüchtige stenogrammartige Scribbles als Gedächtnisstützen. (18)

Gustave Doré, Sketch, in: Blanchard Jerrold: Life of Gustave Doré, London 1891 (MePri-Coll.)

The Town of Malt and Hops, London: A Pilgrimage, London 1872 (MePri-Coll.)

Was Doré an der London- Unternehmung reizte, war nicht der prosaische Vorgang der Berichterstattung, sondern die Sozialinvestigation als romantische Abenteuerfahrt. Als pittoreskes Genre hatte sie sich durch die Unterwelts-Dokumentationen von Henry Mayhew (19) und James Greenwood (20) etabliert. Vor allem durch die Romane von Charles Dickens war die Figur des sozialaufklärerischen Reporters mit einem Nimbus der Verwegenheit und Ritterlichkeit aufgeladen worden. Mit Blanchard Jerrold hatte Doré sozusagen den Erbprinzen dieser sozialjournalistischen Bewegung als Knappen zur Seite. Die hatte sich in den dreissiger und frühen vierziger Jahren im Umfeld von Journalen wie Figaro in London, Morning Chronicle, Punch Magazine und Illuminated Magazine formiert. Als Hauptfigur dieser Bewegung hatte sich Blanchards Vater, der Schriftsteller und Mitbegründer des Punch Magazine Douglas Jerrold exponiert, ein  Freund und politischer Weggefährte des chartistischen Aktivisten und Xylographen William James Linton.(21) Jerrold war zusammen mit seinem Schwiegersohn Henry Mayhew und Charles Dickens vor allem durch die Kampagnen gegen die inhumanen New Poor Laws (1834) hervorgetreten. Blanchard Jerrold sah sich als publizistischer Erbverwalter dieser engagierten Form von Sozialjournalismus. (22) Aufgewachsen war er in Paris, wo sich sein Vater und auch sein Onkel Henry Mayhew auf der Flucht vor ihren Gläubigern zeitweise niedergelassen hatten. Dort hatte er sich auch mit dem wenige Jahre jüngeren Gustave Doré angefreundet, der bereits als Jugendlicher mit seinen furiosen Cartoonhistorien in dem bekannten Verlagshaus Aubert reüssiert hatte. Zu Dorés frühen Vorbildern zählten neben den Stars des Verlagshauses wie Grandville, Paul Gavarni, Honoré Daumier und Bertall vor allem auch englische Zeichner des Punch Magazine wie Richard Doyle und der Dickens-Illustrator George Cruikshank. (23) Als Blanchard Jerrold dem Jugendfreund seine Idee zu einer illustrierten London-Reportage unterbreitete, konnte er also davon ausgehen, dass dieser bestens vertraut war mit der britischen Tradition grotesker Sozialgrafik.

Gustave Doré: Histoire de la Sainte Russie, Paris 1854 (Ausgabe: München 1917) (MePri-Coll.)

Gustave Doré, in: Charles Philipon ed., Musee Francais – Anglais, Paris 1855-59 (MePri-Coll.)

Das Projekt, auf das sich Jerrold und Doré anfänglich geeinigt hatten, war allerdings viel ambitionierter und komplexer ausgelegt gewesen, als es das publizierte Resultat vermuten läßt. Geplant war nämlich ein mehrbändiges Werk, das in den Worten Jerrolds „jede Phase und jeden Aspekt des Londoner Großstadtlebens“ umfassen sollte. (24) Nur ca. ein Drittel des geplanten Gesamtvolumens wurde realisiert. Jerrolds zentrales Anliegen war es, der Gesellschaftsanalyse seines Vetters Mayhew, die im wesentlichen auf die Verhältnisse der unterbürgerlichen Schichten beschränkt geblieben war, eine erweiterte soziologische Studie entgegenzustellen, die den gesamten Warenaustausch und Finanzfluß der Metropole in Augenschein nahm. Diese vielschichtige Untersuchung sollte in einer zeitlich verdichteten Form repräsentiert werden, und zwar anhand eines minutiös beobachteten Londoner Arbeitstages, der wiederum eine illustrierte Typologie der Arbeiterschaft, der Angestellten und der Gewerbetreibenden beinhalten sollte.(25) 1867, im Jahr der Projektierung von London. A Pilgrimage erschien der erste Band von Karl Marx´ Kapital und es ist nicht auszuschließen, daß der monumentale Zuschnitt des ersten Entwurfs von Marx´ Opus Magnum inspiriert war. Daß von diesem Plan einer illustrierten sozio-ökonomischen Untersuchung am Ende kaum mehr als ein schillerendes Fragment übrig geblieben ist, war nur zu einem geringen Teil den widrigen äußeren Umständen zuzuschreiben.(26)  Nur mit Mühe gelang es Jerrold in seiner Doré-Biographie die Verbitterung darüber in Zaum zu halten, dass dieser ehrgeizigen Plan vor allem auf Grund von Dorés megalomanen Künstlerambitionen in eine konzeptuell dürftige „Suche nach dem Pittoresken” gewendet wurde. (27) Daß Doré in Jerrold in erster Linie einen nützlichen Reiseführer und Stichwortgeber gesehen hat und ihm dessen Texte nichts weiter als Beiwerk zu seinen prächtigen Bildtafeln waren, stellte sich erst kurz nach der Fertigstellung heraus, als er Jerrolds Kommentare für die französische Edition kurzerhand durch den Beitrag eines heimischen Autoren austauschen ließ.(28)  In gargantuesker Weise hatte sich Doré den gemeinsamen Plan zu einer komplexen Großstadtanalyse einverleibt, um nurmehr einen weiteren Band seines Monumentalprojekts einer illustrierten Bibliothek der Weltliteratur auszuspeien; und dieser Band kreiste vordergründig vor allem um die Bildwelt des literarischen Champions der Zeit, um Charles Dickens.

London. A Pilgrimage war allerdings weit mehr als ein bildnerisches Supplement zum Werk des verstorbenen Dichters. Die Abfolge von Dorés Bildern gehorchte einer eigenständigen Gesetzmässigkeit, die sie unabhängig von jeder Kommentierung machte. Gemeinsam mit den zeitnahen Illustrationswerken von Adolph Menzel bereitete er damit den Weg für die künstlerisch autonomen Illustrationszyklen eines Max Klinger und einer Käthe Kollwitz. (29) Aber auch der Umstand, daß die Buchillustration zu Ende des 19. Jhds immer weiter in Misskredit geriet, verdankt sich zu einem nicht geringen Teil dieser usurpatorischen Bildpolitik Dorés, die die Funktion des Texts marginalisierte. Blanchard Jerrold blieb angesichts dieser für ihn unerfreulichen Projektentwicklung nicht viel anderes übrig, als Dorés dominantem Bildfluß mit einem digressiven Plaudertext hinterher zu schreiben.

Doré / Jerrold:. London: A Pilgrimage, in: Harper´s Weekly, New York, 1872 (MePri-Coll.)

Warehousing in the City, London: A Pilgrimage, London 1872 (MePri-Coll.)

Der Stern von Charles Dickens stand in den sechziger Jahren, als London. A Pilgrimage projektiert wurde, im Zenit. Der ehemalige Reporter und Gerichtsstenograph hatte mit seinen spannungsgeladenen Fortsetzungsromanen die frühe chartistische Poorhouse-Literatur popularisiert und der viktorianischen Charity-Bewegung zu einem weltweiten Renommé verholfen. Mehr als jeder andere prägte Dickens mit seiner Medienmaschinerie, mit seinen Büchern, Vortragstourneen, Bühnenadaptionen und Wohltätigkeitskampagnen das zeitgenössische Vorstellungsbild Londons. Dieses Image eines aus vielen Parallelkulturen bestehenden motorischen Multiversums fand eine ideale Entsprechung in der offenen Struktur der Zeitung und der Aleatorik des Nachrichtenwesens. Journalismus war die Inspiration und die Essenz des Werks von Dickens. Walter Bagehot hat den Zusammenhang zwischen dem Dichter, der Stadt und dem Journalismus auf die einprägsame Gleichung London gleich Zeitung gleich Dickens gebracht. Sie macht verdeutlich, warum Dorés und Jerrolds London zugleich auf einen topografischen wie auch auf einen literarischen Raum verwies. (30)

Die Vision, die Dickens von London entwickelte, verdüsterte sich von Roman zu Roman. Der pikareske und versöhnliche Tenor seiner frühen Publizistik war im Spätwerk einem schwarzen Kolorit gewichen, dessen unheilvoller Suggestivkraft Schriftsteller wie Dostojevski und Kafka erlegen sind. Die Grafiker der grotesken Hogarth-Tradition wie George Cruikshank oder Hablot K. Browne, die bisher die Illustrierung seiner Romane und Erzählungen besorgt hatten, konnten diesen Entwicklungsgang seines Spätwerks nicht länger adaeqat bedienen. (31) Abhilfe war jedoch in Sicht, denn zur gleichen Zeit, als Doré und Jerrold ihre ersten Exkursionen durch die Metropole unternahmen, erregte die Startausgabe einer neu gegründeten Illustrierten namens The Graphic großes Aufsehen mit ihren harschen sozialrealistischen Illustrationen. Einige der jungen Zeichner dieses Magazins  trafen genau die Tonlage des späten Dickens und wurden von ihm daher auch als Illustratoren akquiriert.(32) Die Übereinstimmungen zwischen dem künstlerischen Sozialjournalismus des The Graphic und Dorés London-Illustrationen können als ein Indiz für die Salonfähigkeit des sozialrealistischen Impulses in der zeitgenössischen Kunst gelten. Bislang war dieser unter dem Einfluß der französischen Barbizon-Schule vor allem rural ausgerichtet gewesen. (33) Auf der Erfolgswelle von Dickens und abgesichert durch die Nobilität der Charity-Bewegung begann man nunmehr auch das urbane Elend als ein politisch unbedenkliches Thema für die Kunst zu entdecken. (34)

Luke Fildes: Houseless and Hungry, in: The Graphic 1869 (MePri-Coll.)

Dickens hatte in seinem Werk die spätbarocke Figur des urbanen Flaneurs zum literarischen Kult erhoben. Seine frühen literarischen Streifzüge durch die Metropole waren unter dem Titel Sketches of Boz erschienen. Später sammelte er dann die Eindrücke seiner regelmässigen nächtlichen Exkursionen durch die Quartiere der Reichen und Armen unter dem Serientitel Uncommercial Traveller.(35) Daß sich auch die beiden Doré und Jerrold als “nichtkommerzielle Reisende” verstanden, signalisierte auch der Titel ihrer Unternehmung. Während sich Dickens mit seinem Verweis auf den Geschäftsreisenden und dem Seitenhieb auf den Profitterror des Utilitarismus begrifflich noch auf festem säkularem Grund befand, erhoben sich die Pilger Doré und Jerrold vom Pflaster der Großstadt in die Höhen der Mystik. Die Verwendung einer solchen religiösen Metaphorik traf allerdings, so verquer sie im Zusammenhang einer dokumentarischen Arbeit auf den ersten Blick auch erscheinen mag, den mythologischen Subtext von Dorés London-Illustrationen sehr genau. Im angelsächsischen Raum rief sie vor allem Assoziationen an das verbreitetste Werk der puritanischen Erlösungsmystik wach, an John Bunyans The Pilgrim´s Progress. Mit dieser Bezugnahme auf eine innerliche Heilslehre grenzten Doré und Jerrold ihr Opus ganz unmißverständlich von dem bekanntesten Vorgängerwerk ab, den illustrierten Londoner Stadtansichten von Auguste Pugin und Thomas Rowlandson, die von 1808 bis 1810 unter dem Titel The Microcosm of London erschienen waren. Während die Metropole dort begrifflich als ein in sich ruhendes Ordnungssystem in einer panoramatischen Totalen gefasst war, ging Dorés und Jerrolds Metapher der Pilgerschaft von einer prozessualen Ansicht des urbanen Raums aus. Sie suggierte eine subjektive Perspektive, eine dynamische Abfolge und eine psychologische Dimension.

Vor allem aber verband sich das Bild der Pilgerschaft mit Dorés Hauptwerk, mit dem er 1856 seine Bibliothek der illustrierten Weltliteratur in Foliobänden eröffnet hatte, mit Dantes La Divina Commedia. Es fällt nicht schwer, sich auszumalen, wie sich das Duo Doré und Jerrold bei ihren nächtlichen Exkursionen durch die Hafengebiete und Slums von London in den Höllenabstieg von Dante und Vergil hineinimaginiert hat. Der Schock, der vor allem ausländische Besucher der Insel angesichts der sozialen Deformierungen der industriellen Revolution ereilte, hatte sich seit den 1830er Jahren immer wieder in apokalyptischen Visionen niedergeschlagen. Der französische Staatstheoretiker Alexis de Tocqueville beispielsweise fühlte sich 1835 bei einer Inspektion der Industriekapitale Manchester an ein Unterweltsszenario erinnert, in der die menschliche Existenz durch die Sucht nach Profitmaximierung auf eine vorzivilisatorische Stufe von Verrohung und Wildheit zurückgeschnitten ist.(36) Diese Einschätzungen deckten sich in der Folge mit einer ganzen Reihe ähnlicher Berichte von Floran Tristan, von Friedrich Engels und Hippolyte Taine. Die Welthauptstadt London spiegelte sich in den unzähligen Zeugnissen berühmter Besucher der Zeit auf allegorische Weise mal als ein finsteres Meer aus Stein, mal als herzloser Moloch oder als ein hektisches Babylon. Percy B. Shelley nannte sie die Hölle und in den Augen des späten Dickens war sie eine gigantische Kloake, durch die hindurch er „Ströme von endloser Verwesung” ziehen sah. (37) Doré und seine Werkstatt, die in den Jahren zuvor an der Illustrierung der Bibel und John Miltons Paradise lost gearbeitet hatten, hatten offensichtlich keine Mühe damit, die Fabriken und Slums von London in pandämonische Szenerien zu tauchen, die von einem lemurenartigen Heer gefallener Engel bevölkert waren.

Anmerkung

1) Das Opus erschien seit Anfang 1872 in monatlichen Lieferungen. Die Buchausgabe kam Ende des Jahres heraus. Doré hatte einen Vierjahres Kontrakt mit seinem englischen Verlag ausgehandelt bei einem jährlichen Vorschuss von 10 000 Pfund im Jahr, was, wie Peter Ackroyd in seiner Einleitung zu dem Reprint der Pilgrimage (London, 2005) betont, für damalige Verhältnisse eine exorbitant hohe Summe war.

2) Blanche Roosevelt: Life and Reminiscences of Gustave Doré, London – New York 1885.  S.303 / 1867 war sein Privatmuseum, die Doré Gallery in der Bond Street mit sensationellem Erfolg eröffnet worden.

3) In Nord-Amerika wurden die einzelnen Kapitel des Buches von April 1872  bis Mai 1873 als monatliche Beilagen in der Illustrierten Harpers Weekly publiziert.

4) Wesentlich von  Dorés Illustrationen geprägt waren beispielsweise David Leans Verfilmungen der Charles Dickens- Romane Great Expectations (1946) und Oliver Twist (1948)

5) Konrad Farner: Gustave Doré. Der industrialisierte Romantiker, 1962. Ausgabe München 1975.  S. 290

6)  Hierzu: Der Aufsatz von Vera von Harrach und Anke Schmidt „London: Doré zeichnet eine Stadt” in: Gustave Doré, Ed. H. Guratzsch / G. Unverfehrt. Dortmund 1982 Bd. 2 S. 151 ff.

7) Henning Ritter: Die Gegenwart als Tatort. Honoré Daumier und Gustave Doré. FAZ,  Nr. 179, 4.8.2007

8) Hierzu: Bugler, Caroline ed.: The Image of London: views by travellers and emigrés. 1550 -1920. London 1987

9) Zu den bedeutenden Ausnahmen zählen die äusserst lebendigen Darstellungen des Londoner Strassenlebens in den 1820er und 30iger Jahren durch den bayrischen Immigranten Georg Johann Scharf.

10) Goncourt, E. und J.: Paul Gavarni. Der Mensch und das Werk. Bd. II S. 30. Berlin o. J. (ca. 1920)

11) „..these scenes,with whatever artistic power they are put on paper, are those of a foreigner.“ (Art Journal, 1.3. 1872) „It is to be noted, however,that Doré (..) never quite entered into the spirit of English things“ (The Times, 25.1.1883

12) Hierzu: Seth Koven: Slumming: Sexual and Social Politics in Victorian London. Princeton 2006

13) London Pilgrimage S. 142

14) Roosevelt S. 350. Bill Sykes ist eine Figur aus Dickens Oliver Twist, den Georg Cruikshank in vagabundenartigem Kostüm mit abgrissenem Zylinderhut darstellt.

15) Jerrold, Blanchard: The Life of Gustave Doré. London 1891,S. 188

16) Jerrold S. 154

17)  Viel zitiert ist Dorés Ausspruch: „Je me souviens“

18) Jerrold hat in seiner Doré-Biographie eine grosse Anzahl dieser Londoner Scibbles abgebildet.

19) Henry Mayhew: London Labour And The London Poor: The Condition And Earnings Of Those That Will Work, Cannot Work, And Will Not Work. In Buchform war es ab 1851 erschienen.

20) James Greenwood betrieb für den Daily Telegraph undercover Sozialstudien in Slums. Mit seinen abenteuerlichen Untersuchungen, die seit 1866 in schnellem Wechsel in Romanformerschienen waren, wurde er zum Vorläufer des Enthüllungsjournalismus des 20. Jhds.

21) Jerrold und Linton hatten sich die Herausgeberschaft des von 1843- 45 erschienenen Illuminated Magazine geteilt, eines literarisch und künstlerisch  anspruchsvollen Ablegers des satirischen Punch -Magazine.

22) Mit der Reportage Signals of Distress: In Refuges And Homes Of Charity; In Industrial Schools And Reformatories.etc. (London 1863) hatte Jerrold sich bereits vor der Arbeit an der Pilgrimage in den Poorlaw-Diskurs eingeschrieben.

23) Hierzu: David Kunzle: The History of the Comic Strip. The Nineteenth Century. Berkley 1990

24) Jerrold S. 151

25)  Jerrold S. 168 ff. Die Gliederung des geplanten Opus ist im Appendix der Biographie abgedruckt. S. 405 ff.

26)  Der kontinentale Krieg zwischen Preußen und Frankreich hatte beispielsweise zu einer längeren Unterbrechungen von Doré Zeichenarbeiten geführt.

27) „Wir haben die Oberfläche angeschöpft, wo wir doch gehofft hatten, die Tiefen zu ergründen,” Jerrold S. 186

28)  Die französische Ausgabe erschien 1876 unter demTitel Londres mit Texten von Louis Énault.

29)  Eine Entwicklung, die in den expressiven Graphic Novels eines Frans Masereel und Lynd Ward ihre konsequente Weiterentwicklung erfahren hat. Hierzu: Amy Kurlander, Stephan S. Wolohojian und Christopher Wood: “Das erzählte Drama in Bildern: Adolph von Menzel und Max Klinger,”in Der Text des Bildes:  Möglichkeiten und Mittel  eigenständiger Bilderzählung, ed. Wolfgang Kemp, Munich: text + kritik, 1989, pp. 35-61

30) „London is like a newspaper. Everything is there, and everythings is diconnected (…) we pass a corner and we are in a changed world. This is advantageouse to Mr. Dickens genius. His memory is full of instances (..) and he does not care to piece them together. (..) He describes London like a special correspondent for Posterity.“  Walter Bagehot, National Review,  Oktober1858

31) Hierzu: Frederic G. Kitton: Dickens and his Illustrators. London 1899 (Reprint: Amsterdam,1972)

32) > Roob: Entfesselter Xylographismus. Der Einfluß der Illustriertengrafik auf die Kunst von Vincent van Gogh, MePri-Artikel vom 2.7.2007

33) Als Katalysatoren dieser Bewegung fungierten in England Künstler wie Ford Madox Brown und Frederick Walker.

34) Möglicherweise trug auch der Hype um die School of Social Realism von Graphic-Künstlern wie Luke Fildes, Hubert Herkomer und Frank Holl mit zu der konzeptuellen Wende von London. A Pilgrimage bei. Unzweifelhaft hatte jedoch der überraschende Tod von Dickens im Juni 1870 Einfluß auf die Edierung. Das Opus geriet damit zu einem Epitaph auf den Dichter. Aus aktuellem Anlaß integrierte Doré sogar eine Schlüsselszene aus Dickens´ letztem unvollendenten Roman  The Mystery of Edwin Drood. (Opiumhöhle S. 147: „Opium Smoking – The Lascar´s Room in Edwin Drood“)

35) Letztere erschienen vom 28.1. – 13. 10. 1860 in wöchentlichen Folgen und wurden 1861 in Buchform ediert.

36) Alexis de Tocqueville: Journey to England and Irland. Ausgabe London 1988. S. 105 ff.

37) Darunter Heinrich Heine, Fjodor Dostojevsky oder Paul Verlaine. Hierzu: Brüggemann, Heinz: “Aber schickt keinen Poeten nach London!”: Grossstadt u. literarische Wahrnehmung im 18. u. 19. Jhd. Texte u. Interpretationen. Reinbeck 1985