Strassen und Gesichter in Berlin 1918 bis 1933 / Streets and Faces in Berlin 1918 to 1933 (Publication)


Das Katalogbuch zur gleichnamigen Ausstellung, die letztes Jahr in der Berlinischen Galerie zu sehen war, zählt zu den seltenen Beispielen dieser Gattung, in denen sich noch wirkliche Entdeckungen machen lassen. Als Zeitzeugen dokumentierten und kommentierten namhafte und heute kaum noch bekannte Künstler mit spitzem Stift die politischen Kämpfe und gesellschaftlichen Veränderungen während der Weimarer Republik. In diesen Jahren stieg Berlin nach Weltkrieg und Revolution zur schillernden Großstadt des Vergnügens auf. George Grosz seziert die Welt der Ganoven und Huren, Erich Godal dämonisiert in seinem Zyklus „Revolution“ die Fabriken, Otto Möller und Heinrich Vogeler zeichnen Volksredner und Menschenmenge, auch der junge Werner Heldt träumt vom Aufstand. Künstler stürzen sich in das Straßenleben des mondänen, proletarischen oder „lasterhaften“ Berlins und finden dort ihre Modelle.

 Heinrich Vogeler, Aufruhr, ca.1920 (Coll. Berlinische Galerie)

Künstlerinnen wie Jeanne Mammen, Gertrude Sandmann oder Lilo Friedlaender geben der Neuen Frau ein Gesicht: Sie nutzt die neu erkämpften Frauenrechte, geht auf die Universität, wird Ärztin oder Künstlerin. Sie träumt wie Irmgard Keuns berühmtes „Kunstseidenes Mädchen“ davon „ein Glanz“ zu werden. Sie investiert in ein elegantes Kleid, trinkt im Café ihren Mokka, den Sekt an der Bar und wirft ihre erotischen Fangnetze nach Männern oder Frauen aus. Boxkampf, Tanzdiele und Zoobesuch gehören zum beliebten Freizeitvergnügen der Kleinen Leute, aufgezeichnet von Künstlern wie Karl Arnold und Heinrich Ehmsen. Doch die Künstler sehen auch die Schattenseiten: Süchtige auf der Parkbank, desillusionierte Huren, arbeitslose Kleinbürger. Der Kampf ums Überleben schreibt sich ein in die Gesichter der Großstadt.

Jeanne Mammen, In der Strassenbahn,1925-28 (Coll. Berlinische Galerie)

Wie heute zieht die Stadt viele Künstler und Schriftsteller aus allen Teilen der Welt an. Dutzende Tagezeitungen und Zeitschriften berichten über die Stars von Bühne und Filmleinwand. Der berühmteste Pressezeichner der Zeit, Fred Dolbin, liefert schnelle, treffsichere Porträts von Bühnenkünstlerinnen wie Valeska Gert, Mary Wigmann oder Lotte Lenya. 1930 erscheint die Mappe Rues et Visages de Berlin, mit einem Text des französischen Diplomaten und Bühnenautors Jean Giraudoux und Zeichnungen von Chas-Laborde. Giraudoux beobachtet das Treiben der Berliner wie der Forscher eine fremde Kultur.

Annelie Lütgens (hrsg.): Straßen und Gesichter: Berlin 1918 bis 1933: Berlin 1918 bis 1933


Chas-Laborde, Rues et Visages de Berlin: Westberlin, 1930 (Coll. Berlinische Galerie)

The catalogue to the like named exhibition,  which was on view last year at the Berlinische Galerie, represents one of the rare examples of this genre, in which real discoveries can be made. As contemporary witnesses, renowned artists and those, which are almost unknown today, accurately documented and commented on the political struggles and social change that were characteristic of the Weimar Republic. After a world war and period of revolution, Berlin became a glittering capital of pleasure during these years. George Grosz dissects the world of villains and whores, Erich Godal demonises factories in his cycle “Revolution”, Otto Möller and Heinrich Vogeler depict orators and protesting crowds, and even the young Werner Heldt dreams of rebellion. Artists plunge into the street life of this fashionable, proletarian or “sinful” Berlin and find their models.

Karl Hubbuch, Jannowitzbrücke,1922 (Coll. Berlinische Galerie)

Female artists like Jeanne Mammen, Gertrude Sandmann and Lilo Friedlaender give the New Woman a face: she is making use of her newly won rights, studying at university, becoming a doctor or an artist. Like Irmgard Keun’s famous “Artificial Silk Girl”, she dreams of being a rising star. She invests in an elegant dress, sips her mocha in the café, takes champagne at the bar, and catches men and women alike in her erotic net. Boxing, dancing and the Zoo featured among the most popular pleasures of the man and woman on the street, illustrated by artists like Karl Arnold and Heinrich Ehmsen. But these artists see the dark side, too: the addicts on park benches, disenchanted prostitutes, unemployed workers. The struggle to survive is engraved on the faces in the city.

Like today, Berlin attracted artists and writers from all over the world. Dozens of newspapers and magazines reported on theatre and cinema celebrities. The best-known press cartoonist of the day, Fred Dolbin, supplied fast and fitting portraits of performers such as Valeska Gert, Mary Wigmann and Lotte Lenya. In 1930 the portfolio Rues et Visages de Berlin was published with a text by the French diplomat and playwright Jean Giraudoux and illustrations by Chas-Laborde. Giraudoux observed Berliners going about their business as a researcher might in an alien culture.

Gertrude Sandmann, o. T., 1933 (Coll. Berlinische Galerie)

Artists: Karl Arnold, Hans Baluschek, Max Beckmann, Lili von Braunbehrens, Paul Busch, Chas Laborde, Otto Dix, Benedikt Fred Dolbin, Heinrich Ehmsen, Michel Fingesten, Lieselotte Friedlaender, Robert Genin, Rudolf Großmann, George Grosz, Werner Heldt, Karl Holtz, Karl Hubbuch, Jeanne Mammen, Otto Möller, Gertrude Sandmann, Rudolf Schlichter, Ines Wetzel, Heinrich Vogeler, Gert Wollheim, Richard Ziegle

Annelie Lütgens (hrsg.): Streets and Faces. Berlin 1918 to 1933