Zurück in die Zukunft oder die Entstehung von Science-Fiction aus der Spekulationsblase. Eine Bildergalerie


Das von Mathias Winzen geleitete Museum mit dem an die konkrete Prosa von Staumeldungen erinnernden Namen LA8 in Baden-Baden leistet seit nunmehr sieben Jahren in einer ununterbrochenen Folge spannender Themenausstellungen eine imponierende kulturhistorische Aufarbeitung des lange verdrängten und immer aktueller werdenden 19. Jahrhunderts. Daß diese Institution in ihrer Orientierung an Kunst und Technik nicht nur als retrospektives Pendant zum Karlsruher ZKM zu verstehen ist, unterstreicht die aktuelle Ausstellung Technische Paradiese. Die Zukunft in der Karikatur des 19. Jahrhunderts.

Das Thema sei, so Winzen, auch heute hoch relevant, denn das „frühmoderne Missverhältnis zwischen expotentiell beschleunigter Technikentwicklung und kaum nachkommender gesamtgesellschaftlicher Deutung und Verarbeitung“, das die Cartoonisten visualisierten, sei “keineswegs gelöst, im Gegenteil.“ Wer sich mit dieser Materie befasse, berichte zugleich von dem Aufeinandertreffen zweier bedeutsamer Entwicklungslininen. „Einerseits wird das Werkzeug im frühen 19. Jahrhundert endgültig zur Maschine. Damit verselbstständigt sich das Werkzeug von seinem klar umrissenen, dienenden Status gegenüber dem Menschen ein Stück weit. Es tritt ihm als teil-lebendige Konkurrenz zur Seite. Andererseits wird die Karikatur von einem kunsthistorischen Nebengeschehen zu einem Hauptexperimentierfeld der Moderne.“

Es ist das Verdienst dieser Ausstellung, daß sie nicht nur erstmals eines der einfallsreichsten Bereiche der Pressegrafik ausführlich vorstellt, sondern auch die künstlerische Genealogie der utopischen Zeichnung transparent macht. Am einflussreichsten waren hier der vielseitige Hogarth-Nachfolger George Cruikshank und der wenig jüngere William Heath, der 1825 in Glasgow das erste Karikaturmagazin begründete. Später kamen Grandville hinzu, der Pionier der fantastischen Illustration, der 1844 mit Un Autre Monde einen Klassiker der utopischen Groteske vorlegte, sowie der weitgehend vergessene Autor und Zeichner Albert Robida, der zeitgleich mit Jules Verne in einer Reihe humoresker Werke die Science Fiction-Illustration begründete. Alle werden in der umfangreichen, von Eberhard Illner und Matthias Winzen herausgegebenen Begleitpublikation in monografischen Beiträgen vorgestellt.

Die nachfolgende kommentierte Bildergalerie lehnt sich frei an die Auswahl dieser Ausstellung an und kombiniert sie mit weiteren Materialien, die größtenteils aus aus dem Archiv des Melton Prior Instituts stammen.

Bernard Picart, Monument consacré à la Postérité, 1720 (Source: Wiki Commons)

Zahllose satirische Drucke über die Finanzblasen von 1720 thematisierten die Diskrepanz zwischen den fantastischen Verheißungen der Spekulanten und der ökonomischen Wirklichkeit. Picarts Darstellung der Blase der französischen Mississippi-Kompanie inspirierte William Hogarth zu seiner ersten Erfolgskarikatur The South Sea Scheme über die Blase der britischen Südsee-Kompanie.

George Cruikshank, „Lofty Projects“ as performed with great success for the benefit & amusement of John Bull, 1825 (source: calisphere.org)

Hogarth´ Nachfolger George Cruikshank bot sich eine griffigere Lösung für die Visualisierung von Blasen an. Er identifizierte die neuen entfesselten Kapitalmärkte und das windige Spekulantentum der industriellen Revolution mit dem zeitgleichen Hype um die Heißluftballons.

William Heath, March of Intellect No. 2, 1829 (Source: Princeton, Graphic Arts Collection)

“Im Mai 1824 bemerkte der Industrielle und Philanthrop Robert Owen, dass der menschliche Geist in den letzten Jahren die schnellsten und umfangreichsten Schritte in der Erkenntnis der menschlichen Natur und im allgemeinen Wissen gemacht habe. Er nannte dies den Marsch des Intellekts und glaubte, dass er ein Tempo erreicht habe, das nicht gestoppt werden könne. Auf dieser Grundlage gründete Henry Brougham 1826 die Society for the Diffusion of Useful Knowledge mit dem Ziel, die Erziehung der Massen zu ermöglichen. Der Marsch des Intellekts wurde zum Kampfbegriff für einen sozialen und technischen Fortschritt, dessen Bedeutung in der Chancengleichheit liegt. Einige waren jedoch der Auffassung, dass er falsche Hoffnungen weckt und Menschen über ihren Stand hinaus erzieht. Würde die Gesellschaft vom Marsch des Intellekts profitieren oder würde er stagnieren? Zu denen, die sich unsicher waren, gehörte der Karikaturist William Heath. (Mike Ashley, Inventing the future)

Robert Seymour (aka Shortshanks), March of Intellect, London 1828-1830  (Source: The British Museum)

Der früh verstorbene Robert Seymour ergänzte die Serie von Heath mit einer brillanten Visualisierung des unaufhaltsamen Fortschritts und Modernismus am Beispiel der neuen London University. Als maschinelles Monster trampelt die neue Institution rücksichtslos die alte ständische Gelehrsamkeit nieder. Mary Shelleys Frankenstein war zehn Jahre zuvor erschienen

George Cruikshank, Science under Divers Forms, The Comic Almanack for 1843, London 1844 (MePri-Coll.)

In seiner populären Comic Almanack-Reihe, die ab 1835 neuzehn Jahre lang erschien, konnte Cruikshank sein breites Spektrum vom politischen Cartooning über die Gesellschaftssatire bis zur Fantasy-Illustration ausspielen.

George Cruikshank, Air-um Scare-um Travelling, The Comic Almanack for 1843, London 1844 (MePri-Coll.)

Mit seinen fanatsiereichen Techniksatiren wirkte Cruikshank entscheidend auf die Entwicklung der Science Fiction – Illustration ein.

Grandville, The Mysteries of Infinity, Un Autre Monde, Paris 1844 (MePri-Coll.)

Grandvilles fantastische Illustrationen standen in der Tradition der grotesken Barockutopien eines Jacques Callot und Cyrano de Bergerac.

Henry de Montaut, Differentes Systémes de Locomotion Aérienne, Le Monde Illustré, 1863 (MePri-Coll.)

Unter den verschiedenen Luftschiffen wird auch das “System Nadar” angeführt, der Riesenballon des Abenteurers, Erfinders, Karikaturisten und Fotografen Gaspard-Félix Tournachon aka Nadar, der Jules Verne inspirierte.

Henry de Montaut, Catastrophe du Ballon Le Géant, Le Monde Illustré, Paris 1863 (MePri-Coll.)

Nadars Enthusiasmus für die Luftbildfotografie erlebte einen Einbruch, als sein Riesenballon Le Géant auf einem Acker bei Hannover niederging. Henry de Montaut, der das Ereignis nach Angaben Nadars zeichnerisch rekonstruierte, illustrierte später einige der fantastischen Romane von Nadars Freund Jules Verne.

Albert Robida, Embaracadère de aéronefs, Le vingtieme siecle, Paris 1883 (MePri-Coll.)

Mit seiner humoresken Science Fiction-Trilogie Le vingtieme siecle stieg Albert Robida zu einem der meist adaptierten Pressegrafiker der Jahrhundertwende auf. Fortschritt war hier nicht wie in den Romanen Jules Vernes das Werk von Eliten, sondern ein gesamtgesellschaftliches Phänomen.

Albert Robida, Les photopeintres au Louvre, Le vingtieme siecle, Paris 1883 (MePri-Coll.)

Zum Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.

Albert Robida, Les émotions de la guerre civile, Le vingtieme siecle, Paris 1883 (MePri-Coll.)

In dieser burlesken Vision über den Medienkrieg der Zukunft verarbeitete Robida seine Erfahrungen als grafischer Reporter während der Barriakdenkämpfe um die Pariser Kommune.

Thomas Nast, New York in a few years from now, Harper´s Weekly 1881 (MePri-Coll.)

Im Gegensatz zu den fantastischen Visionen Jules Vernes und Albert Robidas war Nasts Blick in die Zukunft lapidar und pessimistisch.

Thomas Nast, A view from the Niagara as it maybe a few years hence, Harper´s Weekly 1882  (MePri-Coll.)

Nast verband seine Prognostik mit einer Kritik an der nordamerikanischen Megalomanie und einer Kampagne gegen Umweltverschmutzung, die er im Zusammenhang mit Todesfällen bei den Industrieanlagen von Hunter´s Point initiiert hatte.

George du Maurier, Fifty years hence, Punch´s Almanach for 1890 (MePri-Coll.)

Du Maurier war vor allem für seine subtilen wertkonservativen Gesellschaftssatiren bekannt. Sein Freund Henry James schätzte ihn allerdings noch weitaus mehr als grafischen Visionär und Meister der Fantastik.

Albert Robida, Les batterie des chimistes sans peur, La Guerre au vingtieme siecle, 1883 (MePri-Coll.)

In seinem Buch über die Kriegsführung das kommenden Jahrhunderts sah Robida bereits den Einsatz chemischer Waffen voraus.

Stanley Llewellyn Wood nach Frederic Villiers, „The Great War of 1892“, A Forecast – Battle of Alexandrovo by the electric light between the German and Russian forces, Black and White, London 1892 (MePri-Coll.)

Der grafische Kriegsreporter Frederic Villiers gehörte zu den prominentesten Mitgliedern eines militärstrategischen Expertenteams, das für die Illustrierte Black and White das viel beachtete Szenario eines großen Kriegs erarbeitete, von dem es hieß, daß er „wahrscheinlich in nächster Zukunft“ stattfinden werde.

Fréderic Villiers, „The Great War of 1892“,  A Forecast – The bombardement of Varna, Black and White, London, 1892 (MePri-Coll.)

Ausgelöst würde dieser angekündigte Weltkrieg durch ein Attentat auf dem Balkan. Der Kriegsverlauf, den diese erste moderne Dokufiction entwarf, kam der Kettenreaktion, die zweiundzwanzig Jahre später zum ersten Weltkrieg führte, überraschend nahe. Schwer vorherzusehen war allerdings die Vernichtungskraft der zukünftigen Rüstungstechnik.

Jules Férat, Auguste Tilly (sc.), L´Aerostat électrique dirigeable de MM. Tissandier frères, L´ Illustration, Paris 1884 (MePri-Coll.)

Als Jules Verne-Illustrator war Jules Férat bestens gerüstet, um die Reise der Brüder Tissanier in ihrem elektrischen Luftschiff wirkungsvoll ins Bild zu setzen. Bei der verschollenen fotografischen Vorlage handelte es sich vermutlich um eine Studioaufnahme, die der Zeichner mit einer topografischen Luftaufnahme kombinierte.

Albert Guillaume, Les courses aero-tauro-mobiles, L`Assiette au beurre, 1901 (MePri-Coll.)

Der Art Noveau-Grafiker Albert Guillaume griff für sein Themenheft zur Luftschiffahrt Motive von Cruikshank und Robdia auf und entwickelte sie auf effektvolle Weise weiter.

Albert Guillaume, Le Grand-Prix de Paris, L`Assiette au beurre, 1901 (MePri-Coll.)

Winsor McCay, The Spectrophone: The Imperial City of Philyorgo, Los Angeles Herald, Los Angeles 1904 (Source: California Digital Newspaper Collection)

Auf dem Höhepunkt seiner Karriere als Comickünstler begleitete Winsor McCay die humoreske Zukunftsserie The Spectrophone des Satirikers John Kendrick Bangs mit einer Reihe fantastischer Illustrationen. Die Einflüsse Cruikshanks, Robidas und Nasts waren hier unverkennbar.

Winsor McCay, The Spectrophone: The Last Day of Manhattan, New York Herald, New York, 1905 (Source: Rockwell Center)

Im 44. Jahrhundert hat sich Bangs zufolge die amerikanische Ostküste zu einer einzigen Handelsmetropole  namens Philyorgo zusammengeschlossen. Dieses neue Zentrum des Universums geht schließlich an seiner Hypertrophie zugrunde und versinkt im Meer.

 

Louis Tinayre, de Deluge de Glace, Journal des Voyages, 1902 (MePri-Coll.)

Apokalyptische Zukunftsvisionen hatten um die Jahrhundertwende Hochkonjuktur. Hier handelt es sich um die Illustration einer Prognose des populärwissenschaftlichen Autors Victor Forbin, der eine große Gletscherflut prophezeite.

Lyonel Feininger, Schnellverkehr der Zukunft , Berliner Illustrirte Zeitung, Berlin, 1905 (MePri-Coll.)

Lyonel Feininger zählte zu den führenden deutschen Pressegrafikern der Jahrhundertwende. Neben dem politischen Cartooning gehörte das burleske utopische Genre a la Robida und McCay zu seinen Spezialitäten.

Arpad Schmidhammer, Straßenbild im Jahre 1900, Münchner Bilderbogen Nr. 1182 (MePri-Coll.)

Fritz Koch, Die  Leipziger Strasse der Zukunft, Berliner Illustriert Zeitung 1905 (MePri-Coll.)

Der vielseitige Fritz Koch begann 1904 seine Karriere bei der Berliner Illustriten Zeitung. Unter dem Namen Koch-Gotha stieg er dann zum populärsten deutschen Illustrator auf.

Anon., Die Hochzeitsreise der Zukunft, Nimm mich mit, 1906  (MePri-Coll.)

Das sozialliberale Wochenblatt Nimm mich mit setzte wie sein Vorbild, das französische Le Petit Journal, auf die Wirkung spektakulärer farbiger Titelblätter und wurde damit zur führenden deutschen Faits divers-Illustrierten.

Theo Matejko, Besichtigung der Welt vom Bett aus durch den Fernseher, Berliner Illustrirte Zeitung, 1928 (MePri-Coll.)

Theo Matejkos Prognose einer medialen Zukunft hat sich, zumindest was das Design betrifft, mittlerweile ziemlich präzise eingelöst.

Theo Mateijko, Zeichnung 1933, in: “Bombs over us”, Prophetic drawings by a German  Artist, Life Magazine 1939 (MePri-Coll.)

1933 zeichnete Matejko unter dem Titel Bomben über Berlin das Schreckensszenario eines verheerenden Luftkriegs.

Theo Mateijko, Zeichnung 1933, in: “Bombs over us”, Prophetic drawings by a German  Artist, Life Magazine 1939 (MePri-Coll.)

Sechs Jahre später, als die Serie im amerikanischen Life Magazine abgedruckt wurde, hatte die Wirklichkeit Matejkos Visionen bereits eingeholt.

Alexander Leydenfrost, The 36-Hour War, Atom Bombs descend on U.S., Life Magazine 1945 (MePri-Coll.)

Kurz nach Ende des 2. Weltkriegs brachte das Life Magazine eine Dokufiction über den möglichen Ablauf eines drohenden Atomkriegs. Das Szenario basierte auf einem offiziellen Armeereport. Illustriert wurde der umfangreiche Beitrag von dem Sciene Fiction-Illustrator Alexander Leydenfrost und dem bekanntem Comiczeichner Noel Sickles.

Alexander Leydenfrost, The 36-Hour War, Atom Bombs descend on U.S., Life Magazine 1945 (MePri-Coll.)

Noel Sickles, The 36-Hour War, Atom Bombs descend on U.S., Life Magazine 1945 (MePri-Coll.)