I Double Indifference: Andy Warhol, the Tile Club and the New School


Not translated:

Einleitung:

Wie kein anderes Kulturlabel hat sich die Marke Andy Warhol als Inbegriff einer produktiven Symbiose von Kunst und Kommerz, von Gebrauchskunst und Kunstkunst durchgesetzt. Er hatte sich in seiner frühen Pittsburgher Studienjahren vor allem an den Arbeiten seines künstlerischen Idols, des amerikanischen Malers und Fotografen Ben Shahn orientiert. Der gemeinsame polnische Migrationshintergrund mag zu der besonderen Intensität von Warhol´s Identifikationsleistung beigetragen haben. Warhol hatte in seinen Werbegrafiken nicht nur Shahn´s charakteristisches Pausverfahren des blotted line drawing aufgegriffen, sondern war ihm auch in dessen Doppelidentität von sozialkritischem Kunstkünstler und erfolgreichem commercial artist nachgefolgt. Shahn´s Werk bestand eben nicht nur aus seinen kunsthistorisch überlieferten Chroniken der Depressionsära und der amerikanischen Arbeiterbewegung sondern auch aus ikonischen Titelgrafiken für das Time Magazine, sowie unzähligen illustrierten Plattencovern und Buch- und Pressegrafiken.

Abb. Shahn – Warhol

In seinem Changieren zwischen fine und applied arts war Shahn allerdings längst kein Sonderfall, sondern vielmehr der letzte und prägnanteste Exponent einer genuin nordamerikanischen Liaison zwischen high und low, deren Fährte sich über die Künstler der sozialrealistischen Ashcan School bis hin zu den Illustratoren der frühesten amerikanischen Populärillustrierten wie Ballou´s Pictorial, Harper´s Weekly und Leslie´s Weekly zurück verfolgen läßt, die alle zu Beginn der 1850er Jahre an den Start gingen. Es ist kein Zufall, dass eine Vielzahl der Mitglieder der frühsten emanzipatorischen amerikanischen Künstlerbewegung des Tile Club, wie Edwin A. Abbey, Arthur Burdett Frost, Winslow Homer, Francis Davis Millet und Charles S. Reinhart, durch diese Schule der Pressegrafik gegangen ist und noch weniger ist es ein Zufall, dass diese identitätsstiftende Gründungsformation nordamerikanischer Kunst eine Modifikation der britischen Arts & Crafts-Bewegung vorstellte, einer Richtung also, die sich die künstlerische Aufwertung von Gebrauchskunst und Konsumartikeln auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Dass es sich bei dieser amerikanischen Variante um eine ironische Brechung des Ruskianismus handelte verweist bereits auf einen Grundzug der späteren Pop Art.

01 Edwin A. Abbey:  Procession of ye Tilers. in: The Tile Club at Play, Scribner’s Magazine, February 1879 (MePri-Collection)

02 Charles S. Reinhardt:  The Tile Club. in : Harpers Weekly, 16.10. 1875 (MePri-Collection)

03 Napoleon Sarony: Sarony´s Studio (ein Treffpunkt der Tiler)  (MePri-Collection)

Es gab eine Vielzahl von Überschneidungen zwischen den künstlerischen Strategien des Tile Club und Warhol´s frühem Factory– Betrieb. Diese lagen vor allem in der performativen Verfasstheit beider Unternehmungen, die das Spektakel und die Publicity zum Kern künstlerischer Tätigkeit erhoben. In beiden Fällen wurden auch musikalische Sessions und Lesungen in die gemeinschaftlichen künstlerischen Herstellungsprozesse einbezogen. Als wesentliche Elemente der Verfremdung und der ästhetizistischen Ironisierung kam eine exzessive Verwendung abstruser Künstlernamen hinzu sowie eine Strategie der Glamourifizierung von Alltagssituationen und von peripheren Bekanntschaften, die, sobald sie in Kontakt mit den medialen Inszenierungen des Tile Club oder der Factory gerieten, in den Stand von Kurzzeit-Celebrities erhoben wurden.

Im Gegensatz zur Factory war der Tile Club jedoch nicht autoritär zugeschnitten auf einen alles dominierenden ersten Beweger, sondern er stellte eine offene Gruppierung vor, die sich mehrfach umformierte. Allerdings konnte die zehnjährige Existenz des Clubs auch nur durch die manövrierende Wirksamkeit von wenigen herausragender Personen aufrecht erhalten werden. Der konzeptuelle Rahmen wurde wesentlich von Edwin A. Abbey und William MacKay Laffan bestimmt, während sein Zusammenhalt in der Spätphase vor allem durch die organisatorischen und kommunikativen Leistungen von Napoleon Sarony garantiert wurde.

Der Reproduktionsgrafiker Sarony hatte sein lithographisches Handwerk bei der bekanntesten amerikanischen Firma für Populärgrafik Currier & Ives gelernt. Mitte der sechziger Jahre hatte er sich als Fotograf in New York etabliert und war schon bald zum gefragtesten Gesellschaftsporträtisten der Zeit aufgestiegen. Sein bizarr ausgestattetes Studio in der Fifth Avenue diente den Tilern als bevorzugter Treffpunkt und Ort ihrer Sessions. Der exzentrische Selbstdarsteller Napoleon Sarony, der im Tile Club unter dem Codenamen The Hawk auftrat, kann neben Ben Shahn als wichtigstes role model im Fortgang von Warhol´s künstlerischer Karriere angesehen werden.

04 Napoleon Sarony: Self Portrait

05 Portrait Andy Warhol

Sarony´s Vorbildfunktion bestand nicht nur in seiner Aktivität als Betreiber einer frühen Glamour-Factory, in der er die amerikanische High Society in der Art von tabelaux vivants inszenierte, sondern vor allem in seinen offensiven Selbstvermarktungsstrategien, die alles was der gleichalte Nadar in dieser Hinsicht in Paris unternommen hatte, bei weitem übertraf. Während Nadar eine Parallelexistenz als Karikaturist geführt hatte, benutze Sarony die inszenierte Fotografie als Sprungbrett in die fine arts -Domäne und vertrieb sehr erfolgreich eigene grafische Adaptionen seiner fotografischen Szenarien in Crayonmanier. Obgleich Warhol in seinen Selbstinszenierungen und Kostümierungen ganz offensichtlich in die Fußstapfen Sarony´s getreten war und auch dessen berühmtes Sarah Bernardt-Porträt adaptiert hat, ist die Vorbildfunktion dieses Salonlöwen des Fin de siècle nie zum Gegenstand der Warhol-Forschung geworden.

06  Napoleon Sarony: Eugene Sandow, 1896

07 Andy Warhol: Flexing it. ca.1977

08 Andy Warhol: Sarah Bernhardt, nach Napoleon Sarony, 1980

Für ein historisches Verständnis von Pop Art scheint die Berücksichtigung der slapstickartigen Inszenierungen des Tile Club eher von sekundärem, anekdotischem Interesse. Viel weitreichender ist die Erkenntnis, dass diese ironische Affirmation von Gebrauchskunst und frühem Celebrity-Kult, wie sie der Tile Club betrieben hatte, im Schulterschluß mit einer Revolutionierung der Reproduktionsgrafik geschah, die nicht mehr auf die Darstellung eines bestimmten Bildmotivs zielte, sondern auf pure Oberflächenwiedergabe. Diese Kollaboration zwischen den Tilern und den Exponenten eines radikalen xylografischen Hyperrealismus ist Gegenstand der nachfolgenden Erörterung. Im Zusammenhang mit Warhol ist von besonderem Interesse, dass die strukturellen Lösungen dieses neuen reproduktionsgrafischen Oberflächenzugriffs ganz unmittelbar die Entwicklung des Punktrasters inspiriert haben, also desjenigen Phänomens, das die bildnerische Begründung für die Ideologie egalitärer Indifferenz von Andy Warhol und der Pop Art geliefert hat. 1
(Februar 2011)

1 Siehe hierzu: William Gamble: The beginning of half-tone. A history of the process. New York 1927, Frederick Ives: The Autobiography of an Amateur Inventor. Philadelphia 1928,

 

Der „Tile Club“ und die „New School“


How can the absolutely inexpressiv be artistic?

(W.J. Linton. Art Engraving on Wood. Atlantic Monthly, 1879)

We do not busy ourselves with presenting a „tasteful“ arrangement of lines (…)

(Frederick Juengling.  A Symposium of Wood-Engravers. Harper´s Monthly. Febr. 1880)

Harper published a Christmas issue illustrated by some painters who call themselves the “Tile Club.” For much as I like those drawings in Harper’s Christmas Number (…), still there is always something mechanical in them, something of a photograph or photogravure.
(Vincent van Gogh an Theo van Gogh, Den Haag, c. 21 December 1882)

Als Anfang 1884, nur wenige Monate nach Gustav Dorés Tod, seine Illustrationen zu Edgar Allan Poe´s Gedicht „The Raven“ bei Harpers Brothers in New York erschienen waren, ernteten sie harsche Kritik von allen Seiten.  Doré war schon seit geraumer Zeit wegen seiner fließbandartigen Produktionsweisen im Kreuzfeuer der Kritik gestanden und selbst in dem einleitenden Text von  Edmund C. Stedman ist von einer grundsätzlichen Monotonie  in der Bebilderung die Rede und von gewissen Schwächen in den Ausführungen.

Doré hatte sich  entschieden, die Gravuraufträge für seine Illustrationen diesmal nicht in die bewährten Hände seiner französischen Stecher zu geben. Stattdessen arbeitete er mit einer Riege junger amerikanischer Xylographen zusammen, die seit mehreren Jahren mit ihrem kompromisslosen Oberflächenrealismus für Furore gesorgt hatten. Während die Ateliers von Pannemaker und von Pisán, die in der Zusammenarbeit mit Doré zu Weltruhm gelangt waren, darauf spezialisiert waren, die zugrunde liegenden Vorlagen zu idealisieren und sie in effektvoll ausgeleuchtete grosse Opern zu übersetzen, lag die künstlerische Ausrichtung ihrer amerikanischen Kollegen im schieren Gegenteil, nämlich in einer schonungslosen, sich oft in der Schilderung kleinster Partikel verlierenden Wiedergabe. „Faithfulness of reproduction, not only to the beauties, but down to manners and defects of the original,“ das war das Credo der amerikanischen Xylographie.1

So standen die Vorlagen Dorés in einigen der amerikanischen Reproduktionen auf einmal nackt und bloß da als das, was sie waren, als eine Reihe schnell hingeworfener Zeichnungen nämlich, die ohne die gewohnte Theatralik des tiefenräumlichen Illusionismus in der prosaischen Flächigkeit des Papiers verharrten. Doré´s Poe- Illustrationen markierten also nicht nur den Endpunkt seiner eigenen künstlerischen Laufbahn, sondern  sie läuteten auch das Ende der imperialen Phase des Holzstichs ein, dieses großen graphischen Kinos, das in den beiden zurückliegenden Jahrzehnten in der Illustrationskunst tonangebend war und das er selbst durch seine wirkmächtigen Illustrationswerke eingeleitet und definiert hatte.

Mit seinem Blick über den Teich hatte Doré allerdings durchaus die Zeichen der Zeit erkannt. Seit Ende der siebziger Jahre hatte sich nämlich abgezeichnet, dass die Zukunft der Reproduktionsgrafik in Nordamerika liegen würde. Mit Frederick Juengling, Gustav Kruell F.S. King und Frank French hatte er eine Reihe von Xylographen angeheuert, die zum harten Kern der so genannten New School gehörten. In einem Beitrag zur amerikanischen Xylographie, der in Carl von Lützow´s Monumentalwerk „Der Holzschnitt der Gegenwart in Europa und Nord-Amerika“ (Wien 1887) abgedruckt war, machte der Bostoner Kunsthistoriker und Kurator Sylvester Rosa Koehler deutlich, wie verstörend der neue Oberflächenimpuls dieser Gruppierung auf das zeitgenössische Publikum gewirkt haben muss. „Die Kühnheit der Manier“ heißt es da „artete in Rohheit aus. Die Emanzipation von den abgestreiften akademischen Regeln glaubte man nicht besser dokumentieren zu können als dadurch, dass man allen Regeln der Natur und Kunst und zumal allen Anforderungen der Schönheit frech ins Gesicht schlug. (…) In dem Bestreben, den guten sowohl als auch den wahnwitzigen Eigenschaften der ihnen vorgelegten Originale gerecht zu werden, wurden sie (Die Xylographen der New School) zu allerlei verzweifelten Experimenten getrieben, die nur als solche und als Durchgangspunkte nach einem neuen Ziel betrachtet werden müssen. (…) Alles wurde im Holzschnitt nachgeahmt, bis auf Risse im Papier, zerlumpte Ecken, Spuren von Zeichenzwecken und Schmutzflecken. Galt es die Wiedergabe eines alten Gemäldes, so wurden sogar selbst die tausende von Rissen und Sprüngen im Firniss mit chinesischer Geduld nachgekratzt und was der gleichen krauses Zeug mehr ist. (…) Es ist leicht zu begreifen, dass einem Freunde der Kunst, gar einem in Ehrfurcht vor den Überlieferungen der klassischen Schönheit aufgewachsenen Meister, angesichts solcher Arbeiten die Augen übergehen mußten.“  (Koehler´s Grundlagentext ist in umfänglichen Auszügen im dritten Teil dieses Beitrags wiedergegeben)

09 Timothy Cole: A drawing by Leonardo da Vinci, aus: Scribner’s Monthly January 1879. (MePri-Collection)

10 Timothy Cole: A drawing by Leonardo da Vinci, (Detail) (MePri-Collection)

Sylvester Rosa Koehler war es auch, der den Reproduktionsstichen der New School, die überwiegend im Auftrag der beiden Illustrierten Scribner´s Magazine  und Harper´s Monthly entstanden sind, in einer grossen Ausstellung, die er 1881 mit über sechshundert druckgrafischen Werken im Kunstmuseum Boston organisierte, die ersten musealen Weihen zukommen liess. Diese mediengeschichtlich bahnbrechende Ausstellung stellte die Arbeiten der amerikanischen Stecher in einem breiten internationalen Kontext vor. Die historischen Bezüge, die Köhler aufmachte, reichten vom Holzschnitt der Dürerzeit über die verschiedenen Tendenzen des asiatischen Hochdrucks bis zu den aufbelichteten fotografischen Vorlagen der Stecher.2 Wie Koehler selbst in seinem Essay zur amerikanischen Xylographie dargelegt hatte, war die Möglichkeit zu einer musealen Präsentation solchen Zuschnitts vor allem dem medialen Wirbel zu verdanken, den die wiederholten publizistischen Attacken von William James Linton auf die New School ausgelöst hatten.3 Der Diskurs um die Funktion und den Rang der Reproduktionsxylographie im Illustrationsgewerbe und ihre Abgrenzung zu mechanischen Verfahren, den Linton durch seine Polemiken entfacht hatte, hatte die Gemüter weit über die Grenzen der Zunft hinaus bewegt und war Gegenstand einer lang anhaltenden Debatte in den führenden amerikanischen Kulturzeitschriften. Daß es sich dabei um weit mehr als eine nebensächliche Verhandlung einer mittlerweile obsoleten Drucktechnik dreht, erweist sich allein aus der Tatsache, daß die Analyse dieses Konflikts durch den Grafikhistoriker William M. Ivins jr. den Ausgang moderner Medientheorie darstellt.4

Linton´s Kritik an der amerikanischen Fotoxylographie ging gänzlich nach hinten los, denn er brachte damit vor allem den geballten Nationalstolz der amerikanischen Kunstkritik gegen sich auf den Plan. Stecher wie Timothy Cole und Frederick Juengling, deren Werke er als inferiore Sklavenarbeit an den Pranger gestellt hatte, waren nämlich gerade im Begriff, ihrem Land, das sich in künstlerischen Belangen bislang immer im Schatten europäischer Vorbilder entwickelt hatte, bei internationalen Wettbewerben Ruhm und Medaillen einzufahren. Es stellte sich bald heraus, dass es weniger das Gebiet der Malerei war, als vielmehr das Feld der künstlerischen Reproduktionsgrafik, in dem die Amerikaner auf internationalem Parkett brillieren und der vormaligen französischen und britischen Hegemonie den Rang ablaufen konnten.5

Dabei war die den Arbeiten der New School zugrunde liegende Methode der direkten Aufbelichtung fotografischer Vorlagen auf die Holzstöcke beileibe keine Innovation. Die Fotoxylografie war seit Mitte der sechziger Jahre weltweit gängige Praxis. Das fotografische Abbild war dabei jedoch überwiegend als ein Hilfsmittel eingesetzt worden, um den xylographischen Wiedergaben den Touch einer aufregenden Wirklichkeitsnähe zu verleihen. Kaum jedoch war es als das eigentliche Subjekt der Reproduktion verhandelt worden, und genau darauf zielte die Kunst der amerikanischen Stecher im Grunde ab.

In seinem polemischen Angriff auf die New School in der Ausgabe des Atlantic Monthly von Juni 1879 hatte Linton der fotorealistischen Nachstecherei jeden künsterlischen Rang abgesprochen, einen solchen jedoch zuvor dem Medium der Fotografie selbst eingeräumt.6 Einige Vertreter der New School konterten, indem sie es als eines ihrer vorrangigen Ziele ausgaben, die fotografische Aufnahme selbst, sowie das kürzlich erfundene Druckverfahren der Heliogravure auf ihrer eigenen Domäne reproduktiver Wahrhaftigkeit übertrumpfen zu wollen.5 Was die Übersetzung eines Originals in graustufige Tonwerte so wie die lupenreine Schärfe der Wiedergabe anbelange, sei die Fotoxylografie der New School in ihren Möglichkeiten völlig konkurrenzlos. Ausserdem läge, so der bekannteste Vetreter der New School Timothy Cole, in der linearen und punktuellen Auflösung von Tonwerten ein Zug von schöpferischer Freiheit, mit der sich der Stecher jeder neuen Vorlage auf ganz individuelle Weise näheren könne. Dieser interpretative Spielraum qualifiziere somit den reproduktiven Holzstich zu einem wahrhaft künstlerischen Verfahren und hebe ihn von der Monotonie aller maschinellen Verfahren ab.7



11 Timothy Cole: The “Griffin” at Work. in: The Tile Club at Play , Scribner’s Magazine, February 1879 (MePri-Collection)

12 Timothy Cole: The “Griffin” at Work. in: The Tile Club at Play (Detail) (MePri-Collection)

Indem die radikalsten Vertreter der New School sich streng auf die grafische Abtastung der Faktur ihrer Bildvorlagen konzentrierten, geriet ihnen ein zentraler Aspekt immer mehr aus dem Blickfeld, der zuvor ganz selbstverständlich Ausgangspunkt aller reproduktiver grafischer Operationen gewesen war, die Kohärenz des Motivs. Üblicherweise war dieser bildnerische Zusammenhalt durch den Einsatz von definierenden Konturlinien vermittelt worden. Die Zeitgenossen, deren Augen an diesen deskriptiven linearen Zugriff gewohnt waren, nahmen viele der gewagtesten Stiche der New School nunmehr als zusammenhanglose Flickenteppiche wahr, denn die Erfahrungen mit den gerasterten Halbtonwerten der Autotypie, deren Entwicklung von den struktuerellen Errungenschaften der Fotoxylographen abgeleitet war, stand dem Publikum noch bevor; auch der Pointillismus, der vom Punktraster der Autotypie inspiriert war, liess noch etliche Jahre auf sich warten, als die Stiche der New School zu Mitte der siebziger Jahre für Aufregung sorgten.8



13  Frederick Juengling: nach William Merritt Chase, The Spanish Peasant, 1881

14  Frederick Juengling: nach William Merritt Chase, The Spanish Peasant (Detail)

Die Technik der Fotoxylographie hatte einen tiefen Einschnitt in die Historie der Reproduktionsgrafik markiert. Der Stand und das Ansehen der Stecherzunft waren in Europa durch die Möglichkeiten der fotografischen Aufbelichtung gegenüber den Künstlern, die die Vorlagen lieferten, merklich herabgesetzt worden. Von mehr oder weniger freien Übersetzern waren sie zu ausführenden Organen degradiert, die sich nun gezwungen sahen, die aufbelichteten Vorlagen sklavisch genau zu übertragen. Die Spuren des fotografischen Abbilds wurden dabei verschämt in den Hintergrund gerückt, denn der Ethos der Werktreue zielte nach wie vor auf die Beschreibung des Bildinhalts ab. Diesen galt es in das Korsett eines diffizilen Kanons von festgeschriebenen grafischen Mustern zu übertragen, welches sich in der mehr als vierhundertjährigen Geschichte der Reproduktionsgravur langsam herausgebildet hatte.

Ganz im Gegensatz zu ihren europäischen Kollegen schöpften die amerikanischen Xylographen aus den neuen technischen Möglichkeiten allerdings ein geradezu gestärktes Selbstbewusstein. In seinem Vorwort zu „Engravings on Wood,“ dem Folioband der Society of American Wood Engravers von 1887, legte William MacKay Laffan den überraschenden Ansatz der amerikanischen Stecher auf sehr pointierte Weise dar. Die Originalität der neuen amerikanischen Xylographie, so Laffan, liege in der entwaffnenden Simplizität ihrer Herangehensweise. Der Stecher schere sich dabei nicht um irgendwelche tradierten Regeln, um „seine Linie“, er wisse überhaupt nicht, dass er eine Linie habe, sondern er bemühe sich lediglich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln der Vorlage so nah wie möglich zu kommen.  Nichts sei natürlicher als dass der viel grösserer Grad an Intimität zwischen dem Werk des Graveurs und der Arbeit des Künstlers, der durch die Fotoxylografie ermöglich worden sei, die künstlerischen Ambitionen der Xylographen erwecke. Seit die französischen Stecherzunft 1663 in die Académie Royale de Peinture et de Sculpture aufgenommen worden war, hatte das Handwerk der Reproduktionsgrafik keinen so hohen künstlerischen Rang mehr genossen wie im Amerika des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die Exponenten der New School waren Stars, die man den Malerkollegen gleichberechtigt an die Seite stellte und sie fanden auch das Selbstbewusstein, sich dementsprechend zu organisieren und zu präsentieren.

Lintons Ansicht, dass der xylographische Hyperrealismus der amerikanischen Schule ein Irrweg sei und es vielmehr darum gehen müsse, die künstlerischen Ausdrucksqualitäten des druckgrafischen Mediums zu stärken, hatte sich mittelfristig durchgesetzt. Schließlich wurde die Bewegung der New School mit ihren fotoxylografischen künstlerischen Auflagendrucken nach nur kurzer Blütezeit von den ersten Ausläufern einer expressionistischen Holzschnittwelle überrascht, um bald darauf gänzlich von ihr überrollt zu werden. Paul Westheim hatte Linton mit dieser Einschätzung in seinem berühmten „Holzschnittbuch“ von 1921, das als Programmschrift des expressionistischen Holzschnitts gilt, eine prophetische Weitsicht zugesprochen. In seiner Kritik an der New School hatte dieser allerdings weit über die expressionistische Epoche hinausgegriffen. Indem er in polemischer Zuspitzung davon sprach, dass die Strategie einer minutiösen Oberflächenabtastung der New School darauf hinauslaufe, dass der Stecher zu einer willenlosen Maschine verkomme und er diese künstlerische Konzeption wiederholt als eine „chinesische Methode“ der Selbstverleugung abqualifizierte, wies er auf eine in dieser Radikalität ganz neuartige Haltung der Indifferenz in der westlichen Kunst hin, die sich in aller Konsequenz erst im Amerika der frühen sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts ausformulieren konnte, und zwar als Antithese zum Expressionismus und in der konkreteren Auseinandersetzung mit einer fortgeschrittenen Pluralität neuer Medien.

Die Ansichten der New School hatten sich allerdings nicht in einem reproduktionsgrafischen Vakuum entwickelt, sondern in der Herausforderung, die skizzenhaften impressionistischen Arbeiten einer Riege befreundeter Maler und Illustratoren adaequat ins druckgrafische Medium zu übersetzen. Die meisten dieser Künstlerfreunde waren im New Yorker Tile Club organisiert. Es handelte sich dabei um weit mehr als einen der unzähligen Künstervereinigungen, die im späten 19. Jahrhundert wie Pilze aus dem Boden geschossen waren und deren Aktivitäten sich üblicherweise in der Genese von alkoholisierten Künstleranekdoten erschöpften. Die Formierung des Tile Club basierte auf einem zweifachen, von William MacKay Laffan formulierten Imperativ: 1) „ This is a decorative age. We should do something decorative, if we would not be behind the times“ 2) „Let us all go on journey in search of the picturesque“.9 Der erste Imperativ lief auf mehr oder weniger regelmäßige abendliche Treffen hinaus, bei denen Keramikkacheln bemalt und glasiert wurden. Der zweite mündete in eine Reihe gemeinschaftlich organisierter Reisen in das New Yorker Umland zum Zwecke der Plein-air Malerei. Die slapstickartige Weise, in der diese Aktivitäten zelebriert wurden, macht deutlich, dass es dabei in erster Linie um eine emanzipatorische Distanz der amerikanischen Künstlerschaft zu den Doktrinen der beiden prominentesten europäischen Kunstströmungen der Zeit ging, zur britischen Arts & Craft -Bewegung, sowie zum französischen Impressionismus. Weit wichtiger als die inszenierten Unternehmungen selbst, bei der Mitglieder der Bruderschaft der Tiler unter möglichst unsinnigen Decknamen agierten, war die mediale Aufbereitung derselben. Von 1879 bis 1882 erschienen die Abenteuer des Tile Club, die von den Verlegern der betreffenden Magazine gesponsert waren, in der Form einer Cartoon-Seite in Harper´s Weekly, in einer Sondernummer von Harper´s Monthly, sowie in einer Aufsehen erregenden vierteiligen Folge in Scribner´s Magazine.10 Die Begleittexte kamen aus der Feder des Theoretikers der New School, William MacKay Laffan, der als Tiler unter dem Decknamen „Polyphem“ fungierte. Laffan gehörte zu schillerndsten Persönlichkeiten der amerikanischen ästhetischen Bewegung. Die unkonventionellen Aktivitäten des ausgebildeten Künstlers, Illustrators, investigativen Journalisten, Theaterkritikers und einflussreichen Verlegers waren sowohl für den Aufstieg der New School, als auch für die Formierung der Tiler von unschätzbarem Wert. Laffan´s Tile-Artikel sind im ironischen Gestus der Reisebeschreibungen seines engen Freunds Mark Twain abgefasst, der dem Club ebenso verbunden war wie Oscar Wilde und Henry James.

15 William M. Laffan / Henry Wolf: Things. in: The Tile Club at Work, Scribner’s Magazine, January 1879 (MePri-Collection)

Die Tile Club-Serie in Scribner´s Monthly enthielt einige der besten Arbeiten von Timothy Cole, Henry Wolf, Elbridge Kingsley und Frederick Juengling. Letzterer galt, in den Worten von Sylvester Rosa Koehler „als der kühnste und rücksichtsloseste Experimentator unter den Pionieren der neuen Schule.“ In kaum einem anderen Reproduktionswerk kommt der radikale Hyperrealismus des früh verstorbenen Juengling derart konsequent zur Geltung wie in den Xylographien von Fotos von Kacheln und Zeichnungen der Tiler. Etliche der Tile Club-Stiche der New School war auch im ersten Auswahlband von Holzstichen in Handabzügen enthalten, den Scribner´s Monthly 1879 herausgegeben hatte und der entscheidend dazu beigetragen hatte, die künstlerische Reputation der amerikanischen Fotoxylografie zu festigen.11

16 Frederick Juengling: A Tile in Relief. in: The Tile Club at Work, Scribner’s Magazine, January 1879 (MePri-Collection)

17 Henry Wolf: A Tile of a Tile Man. in: The Tile Club at Play, Scribner’s Magazine, February 1879 (MePri-Collection)

Die lose Fortsetzungsreihe in Scribner´s Monthly, die in dieser einzigartigen Kollaboration der beiden fortschrittlichsten amerikanischen Künstlerbewegungen der Zeit bestand, der Tiler und der New School, kann als eine der hervorragenden Leistungen der amerikanischen Kunst des 19. Jahrhunderts gewertet werden. Die Strategie ironischer Distanzierung, die der Club verfolgte, erfährt hier eine großartige Umsetzung auf dem Feld der Reproduktionsgrafik, die in einer vergleichbaren Entfernung der künstlerischen Fotoxylografen zu allen möglichen Aspekten von Inhaltlichkeit und Sinnstiftung lag. Mit dieser Doppelung von Indifferenz, kunstimmanenter und bildstruktureller Art, legten die Tiler im Verbund mit der New School einen zwar losen, aber nichtsdestoweniger programmatischen Entwurf einer spezifisch nordamerikanischen Kunstvariante vor, deren Relevanz sich erst im Anschluß an die sozialrealistischen und informellen Perioden der dreissiger und vierziger Jahre erweisen sollte, die beide Repliken europäischer Modelle waren. Erst in der Pop-art hatte die amerikanische Kunst wieder zu ihren emanzipatorischen Wurzeln der frühen 1880er Jahre gefunden.

18 Henry Wolf: Henry Irvring. 1900 (Mehrfachdruck auf Japanpapier) (MePri-Collection)

Der Tile Club formierte sich zeitgleich mit den exzentrischen Montmartre-Gruppierungen der Les Hydropathes, Les Fumistes und der Les Arts Incohérents. Vincent van Gogh, der ein hervorragender Kenner der internationalen Illustratorenszene der Zeit war, ist es nicht schwer gefallen, Parallelen zwischen den Cartoons des Tile Club und den Arbeiten eines Henri Pille auszumachen, der einer der Exponenten der inkohärenten Szene war.12 Es macht wenig Sinn die experimentellen Manifestationen des Ästhetizismus länger als eine zusammenhanglose Ansammlung harmloser Präludien zur grossen Oper der Moderne wahrzunehmen, die gemäß der kunsthistorischen Saga mit den Paukenschlägen der beiden Weltkriege eröffnet worden ist. Vielmehr scheint es geboten, diese Gruppierungen in ihrer internationalen Vernetzheit als eine breite Bewegung wahrzunehmen, die in einem ziemlich nahtlosen Zusammenhang zu den Herausbildungen der künstlerischen Avantgarden des 20. Jhds steht. Und mehr noch: Es gibt kaum Gründe, den Avantgarden der Moderne eine Primärbedeutung zukommen zu lassen. Nimmt man beispielsweise den Grad der Reflektiertheit der alten New School zum Maßstab einer Beurteilung, ihre Innovationskraft und die tiefgreifenden Irritationen, die ihre Arbeiten ausgelöst haben, dann scheint es kaum legitim die Kunst eines Frederick Juengling einem Gerhard Richter nachzuordnen oder Chuck Close einem Timothy Cole vorzuziehen oder Franz Gertsch einem Henry Wolf. Die Differenz liegt offenbar vor allem im Format. Sylvester Rosa Koehler, der wichtigste museale Förderer der New School, hatte erkannt, daß der Impuls des frühen amerikanischen Fotorealismus neben der künstlerischen Autonomie auch auf räumliche Expansion aus war. Am Ende seines Beitrags über die amerikanische Xylografie schreibt er: „Wünschenswert aber wäre es, (…) wenn der Holzschnitt in größerem Stil und mit rein künstlerischen Zielpunkten arbeiten dürfte; denn in der fortdauernden Kleinheit des Formats und in den Beschränkungen, welche bei Illustrationen die Rücksicht auf das große Publikum gebietet, liegt die Gefahr der Verkümmerung. Die Holzschneider sehnen sich herzlichst nach solch erweiterter Tätigkeit. Hoffen wir, dass es ihnen bald ermöglicht werde!“

19 Henry Wolf: Henry Irvring. 1900 (handsignierter Abzug der durchkreuzten Platte, Detail) (MePri-Collection)

(Februar 2009)

1 Frederick Juengling: “ He (the engraver) is neither to improve nor to alter it (the work of art), however strongly his feeling or his judgement may tell him of deficiencies.“
in: A Symposium of Wood-Engravers. Harper’s New Monthly Magazine. February 1880

2 Eine vergleichbare Ausstellung fand in Deutschland unter der kuratorischen Mitwirkung von Max Klinger erst 1898 – also 17 Jahre später – in Leipzig statt

3 Koehler bezeichnete Linton als den “Chorführer der konservativen Opposition“, der mit seiner Kritik die innovatorischen Leistungen der New School gänzlich verkenne. Diese Darstellungsweise fügt sich zwar gut in den gesamten Argumentationszusammenhang, sie entspricht allerdings nicht dem viel komplizierteren Verhältnis, das zwischen dem alten englischen Xylographen und den Mitgliedern der New School  tatsächlich bestanden hatte. Linton, der selbst einer der versiertesten Reproduktionsgrafiker seiner Zeit war, war nicht nur mit seinen eigenen Arbeiten ein Vorbild für etliche der jüngeren amerikanischen Stecher gewesen; vor allem hatte er durch sein unablässiges Eintreten für eine Aufwertung des Stecherhandwerks und seine Forderung, dass ein guter Graveur selbst Künstler sein müsse für den initialen Antrieb zur Formierung der New School gesorgt.

4 Marshall McLuhan baute in seinen Medientheorien auf Ivin´s bahnbrechendem Werk
„Prints and Visual Communication“ (1953) auf. Ivin´s Analyse xylographischer Strukturen finden sich auch in der Vorgängerpublikation „How prints look“ (1943)

5 Bereits zu Anfang er achtziger fanden Werke amerikanischer Stecher bei internationalen Wettbewerben Anerkennung. Der große Triumph kam allerdings 1889 mit der Teilnahme an der Weltausstellung in Paris, bei der die Mitglieder der  Society of American Wood Engravers eine Gold -, zwei Silber- und eine Bronzemedaille einholten.

6 „For me, I would admit the photographer also (an Access to the Guild of Art), whenever his work gave evidence of an artistic spirit“: W.J. Linton in einem Beitrag in der New York Evening Post, 1878 (zitiert nach: F.B. Smith,  Radical Artisan. William James Linton 1812-97. Oxford 1973. S. 195)

7 „The aim of wood engraving is to be as faithful throughout as a photogravure is in its best parts. The photogravure, of course, loses color, often smears or produces a haze – is, in short, a mechanical process, and therefore can not equal artists´work. (..) His (the engravers) business is to produce a picture as well as the looking-glass does.“ Richard A. Müller, in:  A Symposium of Wood-Engravers. Harper’s New Monthly Magazine. February 1880

8 Ben Katchor hat in seinem unpublizierten Vortrag “Halftone Printing in the Yiddish Press and Other Objects of Idol Worship”, den der im Oktober 2001 in der Princeton University gehalten hat, in einer Reihe von Bildbeispielen auf den Zusammenhang zwischen Autotypie und der Entwicklung des Pointillismus hingewiesen.

9 The Tile Club At Work. Scribner´s Magazine, Jan. 1879

10 The Tile Club At Work.( Jan. 1879) –  The Tile Club At Play.( Feb. 1879) – The Tile Club Afloat. (March 1880) –  The Tile Club Ashore (Feb. 1882). Verantwortlich für die Veröffentlichung war der überragende Art Director  von Scribner´s Magazine Alexander Wilson Drake.

11 Proofs from Scribner’s Monthly and St. Nicholas: A Portfolio of Proof Impressions Selected from Scribner’s Monthly and St. Nicholas, New York 1879

12 „At present there is a draughtsmen’s club in New York called the Tile Club or the Tile Painters; I saw a number of their illustrations, for instance, in a Christmas issue of Harper’s. I ask you because all those gentlemen seem to have been in Paris at the same time – judging from a page of cartoons by one of them. (..)A large pen-and-ink drawing representing a Christmas scene in Washington’s time, or a little earlier, recalls, for instance, Henri Pille.“ Vincent van Gogh to Theo van Gogh,
The Hague, 30 and 1 March-April 1883