The Album of the 52 Postillione or A Bathing Trip from Paris to Aix-Les-Bains in July-August 1840: an anonymous notebook with drawings, early conceptual.


Not translated:

Ein Zeichnungsheft (vor dreißig Jahre in Straßburg erworben, aber aus Paris), das eine Badereise von Paris nach Aix-Les-Bains hin- und zurück beschreibt, gibt viele Rätsel auf. Beim Durchblättern fallen etliche Besonderheiten auf, so dass sich eingangs die Frage stellt: Mit was hat man es hier eigentlich zu tun? Mit einem phantastischen Buch, das eine Traumreise vorzustellt oder dem Bericht einer Fahrt, die tatsächlich stattgefunden hat?  Das Heft erzählt eine fortlaufende Geschichte: Es handelt sich um eine allein durch die Abfolge der Zeichnungen ausgeführte Schilderung einer Fahrt zu den Thermalbädern von Aix-Les-Bains im Juli-August 1840. Ein Mann, der sicherlich noch jung ist, verlässt Paris, nimmt die Postkutsche, die, Station um Station, über die königliche Straße von Paris nach Turin, schließlich Aix-les-Bains  erreicht ; Der Reisende hält sich einige Wochen in der Thermalstadt auf, dann kehrt er, mit einem ähnlichen Fahrzeug, doch noch mit einem Schlenker über die Schweiz, nach Paris (Auteuil) zurück.

Wie in Reisebüchern üblich – und es gibt davon eine große  Menge besonders von der 1. Hälfte des XIX. Jahrhunderts -, benutzt ein Reisender, der sich zu ähnlich fortbewegt (mit Pferdewagen), dieselbe kontinuierliche Darstellungsform wie in diesem Buch: Er stellt die sukzessiv in unterschiedlichen Etappen angetroffenen Landschaften ganzseitig vor, oder stellt Vorfälle heiterer oder ernsterer Art dar (ertragene Wetterschwankungen, wie z.B. großes Unwetter, Achsenbruch, die mühsame Überquerung einer Furt, oder ein schwerer Unfall); der Zeichner kann auch ein Interesse an den örtlichen Eigentümlichkeiten zeigen (provinzielle Trachten, Volksfeste, usw.) und an lokalen Merkwürdigkeiten (urige Figuren, seltsame Orte der Anbetung), die ihn beeindruckt haben. Der Reisende kann sich aber auch die Darstellung von An- und Rückreise ersparen und nur den Aufenthalt an dem Bestimmungsort zeigen: Dies ist der Fall bei Delacroix´ Voyage dans les Pyrénées (Reise in die Pyrenäen), die er während einer Heilkur in Eaux-Bonnes unternahm, einem Klassiker des illustrierten Reisebuchgenres.

Das vorliegende Zeichnungsheft ist nicht auf die gleiche Weise charakterisiert, es zeichnet sich vielmehr durch verschiedene Eigenartigkeiten aus. Es gibt einerseits zeitliche Sequenzen: Die Hinreise, der Aufenthalt im Bestimmungsort, schließlich die Rückkehr. Auf seltsame Weise zeichnen sich diese zeitlichen Sequenzen jedes Mal wieder anders aus: Die Betrachtungsweise, die der Autor dieses Zeichnungsbuchs zum Ausdruck bringt, ändert sich je nach Zeit und Raum. Zur Zeit des Aufenthaltes in Aix wird er sogar zwei unterschiedliche Zeichungsmethoden anwenden, die je nach  Raum und  Zeit variieren. Die Reise war in Wirklichkeit vielleicht manchmal langweilig, aber der Zeichner hatte eine Herangehensweise, die ständig mit Humor gefärbt war, was die Betrachtung dieses Reisebuches noch vergnüglicher macht.

Dieses Reisebuch ist tatsächlich eine Augenweide für den Betrachter: Mit der Kenntnis, die wir von künstlerischen Schöpfungen und manchmal auch von meteorischen Phänomenen haben, die seit 1840 aufgetreten sind, erweist sich das Nachschlagen in diesem kleinen Werk als anregend und als vielseitig.

In der Postkutsche reisen

An Stelle der schweren gelben Postkutschen (Diligences) der allgemeinen Post von Laffitte und Caillard, benutzten eilige (und über entsprechende Mittel verfügende) Reisende leichtere und schnellere Pferdewagen der Post, die flohgrau angestrichen waren und immer in einem Behälter die Post mitbrachten, so die Malle-Poste (Mail-coach, im Allgemeinen mit vier Pferden und drei Passagieren außer dem Postillion) oder die noch leichtere und schnellere Chaise de poste (drei- oder zweispannig, für einen Passagier und den Postillion). Die Reiserouten, die vom offiziellen Livre de poste (Postbuch) aufgezählt werden, nahmen im wesentlichen die königlichen, von Paris ausgehenden, Routen. Um von Paris nach Aix-Les-Bains, in der Savoie (das sich damals für Franzosen noch im Ausland befand) zu fahren, hatte die Postkutsche einen guten Teil durch die Königsroute von Paris nach Turin abgedeckt, und diesen nur gegen Ende der Strecke verlassen. Man muß anmerken, daß die Eisenbahn Paris erst  seit 1848 mit Lyon verbunden hat, der Pferdewagen ist daher 1840 noch das unvermeidliche Verkehrsmittel. Die großen staatlichen Reiserouten waren in Etappen von zwölf bis zwanzig Kilometer eingeteilt . Es sind diese  Stationen, die der Zeichner auf eigentümliche Weise in seinem Zeichnungsblock markiert, wenn er auch auf einige zu verzichten scheint. Die Bezahlung der Route mußte im Vorraus auf der Post getätigt werden (nach der Anzahl der Stationen und der Zahl der Pferde) , aber es gab dazu auch zahlreiche Unwägbarkeiten, die sich die verschiedenen, auf der Strecke eingreifenden, Bediensteten ausgedacht hatten .

Zeitgenössische Lithographie aus Le Charivari, Nr 269 von dem 27 Juni 1833.  Inneres einer Diligence, wohl von Auguste Bouquet. Unser Zeichner hat seine Badefahrt wohl nicht unter solchen Umständen gemacht (Anhäufung von Reisenden, erstickende Atmosphäre in einer schweren Postkutsche), er reiste wohl in einer leichteren Malleposte oder Chaise de poste.

Die Postillonführung (menage en postillon) war bis 1840 üblich, das meint, daß der Postillon das Gespann leitete, indem er auf einem der Pferde saß. Im Gespann auf französische Art sitzen die Postillione auf einem Pferd, das man porteur nennt, Zugpferd, und das im Allgemeinen bis 1840, außen links läuft. Später setzt sich die Kutscherführung (menage en cocher) durch: Der Fahrer befindet sich dann auf einem Sitz, der auf dem Vorderteil des Wagens eingerichtet ist. Der Zeichner des Reisebuches hat nur mit Postillonen zu tun. Diese tragen in Frankreich (und anscheinend auch in Belgien) eine funkelnde Uniform: Eine kurze Jacke aus königblauen Tuch, mit dekorativen Vorder- und Hinterseiten, mit roten Aufschlägen.

Das Anspannen einer Chaise à la française (hier „dreÿspannig », mit drei Pferden), Auszug aus dem Blatt 14 von dem Werk von Alexander Hofer, Le régulateur du sellier / Anweisung zur Sattlerarbeit), mit 20 Lithographien von A. Hofer, G. Engelmann, Mulhouse, 1818. In Frankreich trug der Postillion, um 1840, die Uniform des Postillions im linken Teil der Abbildung. Der Reisende saß in der „Cabine“ der Chaise de poste und hatte den Rücken des Postillions als Hauptaussicht.

Während der Reise hat unser Reisender ständig die Rücken der Postillione, die in den verschiedenen Stationen wechseln, vor Augen. Unser Reisender wird dann aufzeichnen, was sich ihm bietet: Die kurze Jacke mit Aufschlag und andere Ausrüstungen der Postillone, wie Kopfbedeckung, Peitsche, Armbinde (manchmal errät man den Ansatz des Kennzeichens, das an der Armbinde befestigt ist) und Horn und natürlich werden die großen schweren Stiefel des Postillons ebenfalls dokumentiert, obwohl sie nur von hinten und somit nur teilweise zu sehen sind. Die  blau und roten strahlenden Uniformen fehlen, da der Zeichner im Wesentlichen nur Feder und schwarze Tinte benutzt. Im Fall der zwei einzigen in Farbe dargestellten Postillone aus der Etappe Genf – Lausanne, trägt der Genfer eine relativ ähnliche Uniform, aber das Blau ist gemildert und der rote Aufschlag fehlt an der Jacke.

Ausrüstung und Werkzeuge von Postillionen aus europäischen Museen (Bordeaux, Bruxelles): ornierte Jacken, Kennzeichen (Kupferplakette, hier am einem Arm mit einer Armbinde befestigt), Horn, Pistole.

Zeitgenössische Lithographie, aus Le Charivari, Nr 269 von dem 27 Juni 1833.  „Vergeßt den Postillon nicht, Bürger! Ach, ja, hier haben Sie …einen Handdruck.“ Auf dieser Karikatur, stellt Benjamin den französischen König Louis-Philippe während einer Reise durch Frankreich vor. Der Postillion in seiner Parade-Uniform (von dem zylinderartigen Hut bis zu den steifen Postillonstiefeln) verlangt das Reisegeld und natürlich auch sein Trinkgeld, aber der König verabschiedet ihn mit einem Handdruck. Auf dieser Darstellung, reist Louis-Philippe mit einem Spitzel im Koffer (wo im Allgemeinen die Post aufbewahrt war), darunter ein Korb, der mit Kreuzen der Ehrenlegion (die natürlich der König weit und breit verteilen sollte) gefüllt ist… Im Hintergrund, wohl ein Hufschmid.

Balzac, besonders in „Ursule Mirouët“ und in „Ein[em] Anfang im Leben“, und viele andere Reisende der Epoche, so der Reverend Dibdin, aber auch noch jüngere Historiker wie G. Berthier Sauvigny haben an die Vorfälle erinnert, die das Reisen per Postkutsche kennzeichneten. So hat man behauptet, daß „der wahre Postillion aus allen Händen empfängt“. Die Geldgier und sogar die Trunksucht der Postillone (deren Spotnamen im Volksmund Boissec / Purtrinker war) waren sprichwörtlich. Man konnte sogar sagen, daß das erste Laster das zweite noch übertraf … In seiner „Bibliographischen, archäologischen und malerischen Reise nach Frankreich“ (bei Crapelet 1825 erschienen) beschreibt der Reverend Thomas Frognall Dibdin Einzelheiten über die variationsreiche Methode Reisende zu betrügen nicht zu knapp. Da er selbst wie ein englischer Mylord daherkam und somit als „gut, zum Ausnehmen“ erschien, hatte dieser manchmal den begründeten Eindruck, daß er auf allen Ebenen ausgenommen wird. (von Postillonen, Postherren, Hufschmieden der Stationen und schließlich vom Gastwirt).

Reverend Dibdin hat auf lustige Weise eine seiner Erfahrungen beschrieben: “Zehn Francs [eine beachtenswerte Summe] für ein kümmerliches Kotelett, einen abscheuungswürdigen Braten, halbgekochte Artischocken, und eine gewöhnliche Flasche Wein, der ganz ungenießbar war! Sicherlich war dieser Preis ungeheuerlich und mußte die bekannte Schlagfertigkeit eines englischen Reisenden, der sich beschwert, erregen; doch es war wirklich zu heiß, um laut zu sprechen. Frau Gastwirtin steckte mein Geld ein, und ich die Schande, die dieser überhöhte Preis auf mich geworfen haben könnte”. Von einer anderen Station (in La Ferté-sous-Jouarre) erzählt er “daß sich mindestens vier Hufschmiede aus ihren jeweiligen Schmieden stürzten, um den Wagen in all seinen Teilen durchzuchecken”, was die Begabung einiger zeitgenössischer Tankstellenbesitzer antizipiert, eine Menge von Problemen zu finden, die einer dringenden Reparatur bedürfen: „Die Gauner bekamen vier Francs anstatt den sechs, die sie die Frechheit hatten zu verlangen “…

Von solchen Mißgeschicken und eventuellen Erpressungen nimmt das Buch keine Notiz, da der Text  auf die Hin- und Rückreise beschränkt ist und auf die knappe Erwähnung der Namen der Haltestellen. Bildnerisch dargestellt ist nur eine einzige Haltestelle, die von Saulieu.

Blatt 9.  Die Poststation von Saulieu hat der Reisende zwischen den Rücken zweier Postillone dargestellt. Dieser Relais de poste ist  heute noch zum Teil in dem bekannten Hôtel de la Poste erhalten.

Vorgehensweisen, die sich je nach den verschiedenen Etappen der Reise ändern: Protokolle der Hinfahrt, des Aufenthalts vor Ort und der Rückkehr

Wenn auch der Inhalt auf den ersten Blick verwirrend wirkt, so ist das Zeichungsheft selbst klassischen Typs: Ein rot-braun kartonierter Einband, das Format, quer (à l’italienne) von 17 x 23,5 cm; 62 Blätter; außer der ersten Seite, die weiß geblieben ist, (Vorsatzblatt zu Beginn des Buches, für einen nicht verwendeten Titel) die 61 restlichen Seiten sind alle bezeichnet. Wenn das weiße Blatt und der gezeichnete Frontispiz (Blätter 1 und 2) umgeblättert werden spitzen sich die Sachen ein wenig zu: Der Zeichner verwirrt den Betrachter, da er in gewisser Weise  gegen die Regeln des Reisebuches spielt. Auf eine Weise folgt er doch der Hauptregel eines Reisebuches, indem man die klassischen chronologischen Sequenzen findet, wie z.B. die Hinreise, die Entdeckung des Kurortes, den Aufenthalt und schließlich die Rückkehr. Aber statt  einer einzigen linearen Form, die gewöhnlich diejenige eines  Zeichenheftes ist, wird der Autor je nach den Etappen seiner Reise unterschiedliche  Protokollformen zur Anwendung bringen.

Seit den ersten Radumdrehungen hat der Zeichner den Entschluss gefasst, die unterschiedlichen Etappen einzig und allein  von den Rücken der Postillone aus darzustellen (anfangs fast ohne Pause auf 16 Seiten)… Es handelt sich um die Umsetzung eines Protokolls. Einmal, in Aix-Les-Bains angekommen, wählt der Zeichner andere Vorgehensweisen: Er widmet zuerst eine lange Zeichnungsreihe in Rahmenform (Serie von 22 Ansichten). Das sind Ausblicke, die die landschaftliche Umgebung von Aix, oder auch einige Brunnen und andere Monumente darstellen; diese Ansichten sind manchmal belebt, aber die Menschendarstellungen sind im Allgemeinen besonders winzig (2 bis 10 mm Höhe).

Der Reisende fährt am 18. August 1840 Richtung Norden weiter: Wieder indem er die Jacken der Postillone darstellt; man spürt eine leichte Lockerung im Vergleich zu dem Anfangsprotokoll, als er die Schweiz durchquert, aber, er findet seine Markierungen wieder, sobald er in Frankreich angekommen ist. Der Reisende selbst erscheint nur ein einziges Mal in diesem Buch, es handelt sich um die letzte Ansicht, als er zu Hause in Auteuil ankommt. Er stellt sich dann in dreiviertel Rückenansicht vor, man erkennt weder sein Gesicht, noch seinen Namen.

Blatt 62 des Heftes : Der Reisende kommt nach Hause an, in Auteuil. Dieses letzte Blatt ist das einzige, wo der Zeichner das ganze Blatt nutzt, ansonsten sind es hauptsächlich kleine oder mittlere Darstellungen in der Blattmitte.

Auf der Hinreise, die Wahl der „Eingrenzung“ : Im Inneren des Wagens.

Der Zeichner reist sehr wahrscheinlich in einer Postkutsche, in der drei oder vier Reisende Platz finden, aber er liefert nicht den kleinsten Hinweis auf eventuelle Begleiter. Er könnte allein in einem solchen Postwagen gereist sein, dann wäre der Fahrpreis außerordentlich hoch gewesen: es ist dennoch möglich, daß unser Reisender imstande gewesen ist, eine solch hohe Summe zu bezahlen, seine Kontakte in Aix könnten es vermuten lassen. Man weiß aus Reiseberichten der ersten Hälfte des 19. Jhd., daß in solchen Fällen die Postillone nach einem bestimmten Kode, bei ihrer Ankunft in einer Station, mit drei kräftigen Peitschenschlägen statt nur einem darauf hinwiesen, dass ihr Reisender sowohl in Eile war als auch  in der Lage  sei, gut zu bezahlen, was große Begeisterung in der Station auslöste.

Während der ersten Sequenz, derjenigen der Hinfahrt, vermitteln die Zeichnungen den Eindruck, dass der Reisende sich wie vergraben im Inneren des Pferdewagens aufhält und dass er, als Blickpunkt, nur den Rücken des Postillions hat: Diesen sieht er nur teilweise, oder durch einen Spalt… Bei jeder Etappenstation wechselt der Postillion. Der Zeichner stellt meistens auf derselben Seite zwei Postillone dar (diejenigen zweier aufeinanderfolgender Etappen), manchmal stellt er drei oder auch nur einen einzigen dar. Diese Zeichnungen sind im Vergleich zu dem Format des Blattes ziemlich klein und erscheinen wie frei schwebende Vignetten, ohne Rahmen oder Umfeld, auf fast allen Blätternder Hin- und Rückreise.

Es scheint wie eine stufenweise ethnographische Entdeckung des Postillions und seiner Ausrüstung. Der Postillion ist hauptsächlich durch seinen Oberkörper angezeigt, fortschreitend vervollständigt er sich: Immer sieht man den Kopf mit dem Hut bedeckt (manchmal mit einer Mütze), den Rücken selbstverständlich und die Oberarme (manchmal ist eine Armbinde am linken Arm angelegt), ein Vorderarm kommt nur vor, wenn dieser von einer Peitsche oder Zügeln verlängert ist. Öfter erscheint der Postillion fast wie ein Einarmiger, bei dem die Unterarme fehlen würden… Vom dem Zugpferd, das mit dem Postillon wie verwachsen ist, sieht man lange nur den Ansatz einer Sattelerhöhung und eventuell vage Striche, die den Rücken des Tieres andeuten.

Blaetter 3 und 7 des Buches. Station von Villeneuve-St. Georges, mit Datumsangabe darüber ” Juillet 1840 ” (die Abfahrt hat wahrscheinlich am Anfang dieses Monates stattgefunden) und Pont-sur-Yonne. Eigenartigerweise stellt der Reisende auf diesen ersten Seiten zwei Postillions dar: Es handelt sich wahrscheinlich um den in der Etappe ankommenden und den von der Etappe abgehenden.

Ohne dass es ein systematisches Fortschreiten gäbe ergänzt sich das Bild des Postillions schrittweise: Bei der Haltestelle von Melun trägt der Postillon einen kurzen Regenmantel über der Jacke (wegen eines Unwetters?); bei Joigny kommt die Rückseite des Sattels deutlicher hervor; in Auxerre raucht einer der beiden dargestellten Postillione Pfeife. Im Allgemeinen sieht man den Kopf des Postillons kaum, er verschwindet zwischen Kragen und Hut. Ausnahmsweise zeigt der Zeichner uns zweimal Profile der Postillone. Ergänzende Elemente erscheinen,  je näher man Aix kommt: In Le Bourget hat ein dickerer Postillion an der Seite ein Horn, das an einer Schnur mit einem Bommel festgemacht ist ; sogar das Oberteil seiner großen und steifen Stiefel kommt auf dieser Vignette vor. Man sieht auch einen Teil des Sattels und wohl den Ansatz des Pferdeschwanzes. Bei der folgenden Haltestelle (Chambéry), trägt diesmal ein langer und dürrer Postillon ebenfalls ein Horn, das an einer ähnlichen Schnur befestigt ist.

 

Blätter 17 und 18 : Die Postillione von Le Bourget und Chambéry.

Blätter 8 und 10 des Heftes. Auf dem Blatt 8 drei Postillone, die jeweils die Etappen von Sens, Villevallier und Joigny vorstellen. Obwohl die Haltungen steif sind, hat der Zeichner  Bewegung durch die Zusammenstellung der drei Figuren suggeriert. Nach Blatt 10 wurde der Reisende von Arnay-le-Duc zuerst von einem Postillon geführt, der nicht die angemessene Uniform trug, sondern einfach eine Mütze und eine Bauerbluse; im Gegensatz dazu trägt der folgende Postillon den ordnungsgemäßen Anzug. Das Schloß von Rochepot, das hier von weitem als Ruine vorkommt (was in 1840 der Fall war), wurde völlig in einem neugotischen Geist ab 1893 wiederaufgebaut und erscheint heute ganz mittelalterlich.

Bl. 9 : Bressanne. Junge Frau aus der Bresse (Provinz nördlich von Lyon, wo von gastronomisch wohlbekannte Hühner gezogen werden).

Der Zeichner weicht nur äußerst selten von der festgelegten Protokollierweise ab. Nur ausnahmsweise können sich äußere  Elemente (außer den Rücken der Postillone) in den Lauf der gezeichneten Erzählung einmischen: So in Saulieu (Bl. 9), wo die Poststation (der Reisende hat dort vielleicht eine Nacht verbracht) zwischen zwei Rücken von Postillonen skizziert ist; ebenso zwischen Arnay und Rochepot (Bl. 10), wo der Reisende, zwischen den beiden Rücken der Postillone die Silhouette des Schlosses von Rochepot festhält, das damals eine Ruine war. Man bemerkt jedoch, daß diese Landschaftserscheinungen nur Hintergrundkulissen zwischen Rücken der Postillione abgeben. Die Erscheinung einer jungen Frau, die die lokale Volkskleidung (mit einem kleinen schwarzen Hütchen) trägt und Hühner füttert, verführt den Zeichner dazu, einen Bruch in dieses erste Protokoll zu machen: Offensichtlich bezaubert, reproduziert er sie auf dem Boden von Blatt 19 seines Reisebuches, ohne daß dort etwa der Rücken eines Postillon  zu sehen wäre.

Berücksichtigung der Landschaft, sobald Aix erreicht ist

Man bemerkt eine radikale Veränderung in der Zeichnungsfolge, als der Reisende in Aix ankommt. Gleich beschließt der Zeichner sich nur für die Landschaft zu interessieren und fasst den Entschluß, den landschaftlichen Rahmen, in dem er sich befindet darzustellen. Die Auswahl bestimmter Landschaften ist ein weiteres Mal mehr seltsam: Er zeigt eine besondere Vorliebe für alleinstehende Gebäude, sowie Une maison du faubourg d’Aix… „Ein Haus der Vorstadt von Aix (Bl. 27), La Maison du Diable /  „Das Haus des Teufels“ (Bl. 29), eine Mühle (Bl 25) oder isolierte Bauernhöfe (Bl 33,34 und 36)

Wohl am Tag der Ankunft in Aix hatte der Reisende Aix-les-Bains zweimal dargestellt, aber diese Ansicht hat nichts Städtisches, es könnte sich eher um Vororte von Aix handeln (Bl. 19 und 20), dann hatte er eine Kreuzung von Wegen in Form eines Y gezeichnet, le Point de réunion des routes du lac et de Genève, „den Treffpunkt der Seestrasse und der Genferstrasse“ ; diese Kreuzung ist  in der heutigen, sehr urbanisierten und konstruierten Landschaft noch immer gut auszumachen.

Er hatte sich einige Zeit in der Stadt selbst aufgehalten, wo er nacheinander eine Fontaine publique à Aix, l’Arc de Campanus, le Temple de Diane / „Einen öffentliche Stadtbrunnen, den Triumphbogen des Campanus, den Tempel der Diana“ darstellt, ehe er aus der Stadt zieht. In mehr oder weniger konzentrischen Kreisen um Aix sucht er Brunnen, dann den See von Bourget auf, zeichnet einige Ansichten wie die Dent du Chat / den „Katzenzahn“, eine typische Berghöhe, die das Land von Aix beherrscht. Manche dieser Zeichnungen sind ziemlich knapp und sogar etwas ungeschickt, aber der Reisende strengt sich sehr an, um die ganze Landschaft, in der er sich befindet, zu fassen.

Eine Besonderheit soll vorgehoben sein: Diese Landschaften sind “eingerahmt”. Während die Rücken von Postillonen mehr als schwebende kleine Vignetten auf der größeren Fläche der Seiten vorkommen, entschließt sich der Reisende diesmal, seine Landschaften systematisch in Feldern einzuschreiben. Diese haben im Durchschnitt folgenden Dimensionen: 70 mm hoch auf 130 mm breit; auf 22 Landschaftszeichnungen gibt es nur sehr wenige Abweichungen von diesem Format. Auf dem Blatt 40 seines Buches stellt der Zeichner eine letzte, ziemlich minutiöse Landschaft vor, für die er sogar Farbe benutzt hat. Es ist ein kleines Panorama von 33 auf 151mm.                     

Panorama (Bl. 40) : Port de Puey sur le lac du Bourget / « Hafen von Puey am Lac du Bourget ».

Aix-les-Bains ist um 1840 reich an Bade- und Vergnügungsgebäuden, die viel von Ausländern (Franzosen, nämlich Pariser – wie Balzac, Engländer, usw.) aufgesucht wurden: Damals, kamen jährlich 4000 Kurgäste.  Unter all den Landschaften dieses Heftes findet man jedoch keine der traditionellen Ansichten einer Badereise. So fehlen Ansichten von den Thermalbädern oder verschiedenen anderen Bädern, dem Bad von dem Casino, vom Cercle des étrangers /„Kreis der Ausländer“. In seiner landschaftlichen Annäherung an Aix zeigt der Reisende nur zwei antike Monumente, die, übrigens auf eine etwas gepfuschte Weise reproduziert sind, den Tempel der Diana und den Triumphbogen des Campanus, dazu noch einige Brunnen.

Während der Kur: Noch ein Protokollwechsel  

Eines der Bravourstücke dieses Skizzenbuches besteht aus einem kleinen Ensemble von 7 Bildern, in denen viel größere Figuren vorkommen, die als Vertreter der Badewelt erscheinen. Für zwei dieser im Lauf der Kur in Aix ausgeführten Zeichnungen sind noch Umrahmungen vorgesehen (wahrscheinlich in der Kontinuität der Landschaftsrahmen) , dann geht der Zeichner in eine viel freiere, rahmenlose Zeichenweise über, die einen Großteil der Seite einnimmt.

Der Zeichner hat sich offensichtlich entschieden, das thermale Leben durch Typen darzustellen und sein Interesse scheint noch einmal ethnographisch zu sein. Offenbar interessieren ihn die Menschen seiner eigenen Welt nicht sehr, er findet dort eher einen spöttische Zugang ; im Gegensatz dazu spürt man in der Auswahl seiner Zeichnungssubjekte, daß er eine deutliche Empathie für kleine Leute hat, und auch für einige  Kranke.

Paralytique. Paralytikerin von zwei Trägern zur Wasserkur getragen.

Kind des Krankenhauses, das auf die Dusche wartet. Das Kind, das gut eingemummt ist, sitzt auf eine Tragbahre und wartet auf seine Träger. Im Mittelgrund eine Frau, die mit Wäsche umgeht und ein Wasserträger, der warmes Wasser (Thermalwasser) zu verschiedenen Orten – Hotels, sekundäre Bäder – in einem Rückentragkorb bringt; im Hintergrund die Arkaden des Kurhauses.

Blatt 42. Baigneuse du N°4. Es handelt es sich hier entweder um eine Badefrau, die das Bad No. 4 für den kommenden Kurgast reinigt, oder um eine Frau die selbst die Kur mitmacht und sich hier im Baderaum No. 4 befindet

So kommen beispielsweise Waschfrauen bei einem Brunnen hervor auf einer Zeichnung mit dem Titel Aixoises / „Frauen von Aix“ (Bl. 41); des weiteren findet im Hintergrund Frauen, die sich um die Wäsche kümmern, Krankenträger oder weitere Thermalwasserträger, die die “kleinen hilfreichen Hände” sind, die in einer Kuranlage unersetzlich sind. Badende sind ebenfalls dargestellt, sowie die Badende des No.  4 (Bl 42,cf Abbildung) oder zwei Badende (No 43). Der Zeichner zeigt eine offensichtliche Sensibilität für die Misere der wirklich Kranken, insbesondere der Kinder, indem er eine Gelähmten darstellt (Bl 44), wobei es sich wahrscheinlich um ein junges Mädchen handelt, das von zwei Trägern gehalten wird und ein Kind des Krankenhauses, das auf seine Dusche wartet (Bl 47). Zwischen diese beiden Leidenden hat er zwei Zeichnungen von Kurgästen eingeschoben, die der Mode der Zeit entsprechen (Bl 45 und 46, cf Illustration): Zwischen diesen Kurgästen, die aus Vergnügen kommen und den kranken Kindern gibt es eine deutliche Diskrepanz.


Bl. 43, Baigneurs /“ Badende“. Zwei Kurgäste, Mann und Frau, mit Kopfbedeckung, gut eingehüllt, wohl in wasserdichten und fest zugeschnallten Überkleidern; der Mann hält einen tragbaren Duschenkopf (aus eigenem Besitz?) in der Hand. 

Bl. 45. Malade qui attend l’heure du Bal au Cercle des étrangers/ „Kranke, in der Erwartung der Stunde des Balls im Kreis der Ausländer“. Bl. 46. Les lions au café Dardel / „Die Löwen im Café Dardel“.

Diese Ansichten sind natürlich satirisch. Der Zeichner macht sich über eine “Kranke” lustig, deren einzige Sorge zu sein scheint, den täglichen Ball im Kreis der Ausländer zu verpassen. Der Cercle des étrangers war um 1840 im früheren Schloß von Aix untergebracht. Man kann sich fragen, ob die erstaunte Figur, die an der Wand erscheint, nicht weniger ein gemaltes Porträt vorstellt, das vielmehr das erstaunte, sich in einem Spiegel widerspiegelnde Gesicht des Zeichners (damit hätten wir doch ein Porträt vom Verfasser des Zeichenheftes). Die Löwen und die Löwinnen sind die Jugendlichen in der modischen Kleidung, die man hauptsächlich in Paris und im Sommer in den Kurorten trifft. Das Café Dardel, wo  eine Verräucherung unter Löwen stattfindet, ist auch durch die Fotografie um 1860 gut bekannt: Man sieht dort wohlhabende Pariser Touristen und Mitglieder der englischen Gentry, die sich es sich auf einer Terrasse bequem machen.

Die Rückreise: Erneut im Inneren des Wagens und nochmal die Reise von den Rücken der Postillione aus gesehen

Der Reisende verläßt Aix am 18. August 1840 und beginnt die Rückkehr nach Paris. Zu Beginn der ersten Etappe stellt er als Postillon eine Person dar, deren Namen Guilland ist,  (siehe Illustration in Bl. 48). Die Guillands sind eine Familie von Postherren, die über Generationen hinweg Poststationen und Hotels in Aix-Les-Bains besessen haben. Der Reisende kehrt zu seiner ersten Protokollweise der Hinreise zurück und stellt die Etappen durch die Rücken der Postillone dar. Was die Qualität der Zeichnung betrifft, so scheint es, dass der Autor mehr Entspannung gefunden hat; seine Postillone sind weniger steif, er benutzt sogar  Farbe für die Etappen der Durchreise durch  die Schweiz.  Will er einen Unterschied zwischen Frankreich und der Savoie hervorheben? Wahrscheinlich beeindruckt von den traditionellen Trachten, die er in der Schweiz gesehen hat, stellt er die Etappen von Freiburg, Bern und

Soleure durch junge Frauen in lokalen Trachten dar, die mit denen der Bressane auf der Hinfahrt vergleichbar sind. In Soleur kann man fast die Kirche erkennen, die leicht schematisiert,  von weitem dargestellt ist.

Die Rückkehr. Links, Aix le 18 août 1840 / „Aix den 18. August 1840.“ Diese Zeichnung (Bl.48 ) ist die einzige, auf der ein präzises Datum vorkommt und auf der die Identität einer Person geliefert wird: Über dem linkssitzenden Postillon ist der Namen Guilland geschrieben. Dieser Guilland trägt als Postmeister eine Postmeisterplatte auf der Brust, er hat also keine Armbinde, im Unterschied zum zweiten Postillon. Rechts  zwei Schweizer Postillione, jeweils auf den Etappen von  Genf nach Lausanne.

Alle seine Interessen belegen, daß der Autor des Heftes sicherlich gut gebildet war. Er hatte seine Reise wohl gut vorbereitet durch die Lektüre von Reiseführern über Aix und Umgebung, sowie zu den durchquerten Provinzen. Er kannte deren Sitten und Gebräuche, Beschreibungen von Trachten, usw. Wahrscheinlich war sein Auge von den originalen Trachten, die er in der Schweiz gesehen hatte, angezogen. So stellt der Zeichner die Etappen von Freiburg, Bern und Soleure (Solothurn) durch junge Frauen in lokalen Bekleidungen dar. Von Soleure ist fernerhin in groben Zügen die Kirche (durch die Türme seiner Fassade und den Turm der Kreuzung) erkennbar. Diese Ansichten von Freiburg, Bern und Soleure kann man mit der „Bressanne“ von der Hinfahrt vergleichen. Durch den Reiz der Schweizerinnen ist der Autor hier mehr als auf der Hinfahrt vom Postillionsrückenprotokoll abgewichen.

Nach der Überquerung des Schweizer Jura schließt sich der Reisende erneut an die französischen Hauptwege an (ziemlich schnell hat er wohl die königliche Route von Basel nach Paris durchfahren) und verbindet die  verschiedenen Stationen. In Mont-sous-Vaudrey ist einer der beiden Postillione in der Bauertracht mit Bluse und Mütze der Provinz France-Comté gekleidet, danach ist die vorschriftsmäßge Uniform die Regel bis nach Paris ; die Strasse geht über Dôle, Troyes und Provins. Das Anfangsprotokoll kommt hier vollständig  zur Anwendung, aber die Ansichten der Postillone scheinen hier besser durchgearbeitet zu sein und man merkt, dass die Einheit „Postillion-Pferd“ etwas mehr durchkommt: Bei einer Station nach Troyes (Pont-de-Troy) stellt der Zeichner links einen Postillion mit seinem Pferd in einer Dreiviertelrückenansicht dar und rechts kann man das Gepäck vor dem Reiter unterscheiden. Weiter in Arnay-le- Duc (und später noch in Mormant) sind die beiden Pferde teilweise dargestellt: Man kann sogar die Scheuklappen vom linken Pferd erkennen.

Während der Rückkehr wurde dem Zeichner sicher  das Papier seines Zeichenhefts  knapp und so  hat er nur noch einen Teil von den letzten Etappe seiner Reise dargestellt. In gewisser Weise drückt sich die Eile der Rückreise auch in den Zeichnungen aus. Bei dem Postillon der Etappe von Charenton nahe bei Paris bemerkt man viel Schwung. Er hat sich wahrscheinlich auf seinen Steigbügeln aufgestellt. Der Reisende selbst, der wahrscheinlich ein Mietpferd bei der Ankunft der Postkutschen geliehen hat treibt sein Pferd zur Eile an.

Die Eile der Rückkehr. Blatt 61. Der letzte abgebildete Postillon von Charenton schwingt die Peitsche und treibt das Gespann. Paris ist nahe.

 

Schlussfolgerungen

Klare Sequenzen

In diesem Zeichenbuch kann der Betrachter ziemlich  leicht Sequenzen ausmachen: Die zeitlichen Sequenzen (die der Hin- und Rückreisen , sowie des Aufenthalts vor Ort) liegen klar auf der Hand; Man muß anerkennen, daß der Zeichner dem Betrachter die Aufgabe erleichtert hat, indem er die Protokollweisen entsprechend den unterschiedlichen Etappen variiert. Bei kleinlicher zeitgeschichtlicher Betrachtungsweise wäre wohl zu beklagen, daß der Zeichner manchmal die Genauigkeit vermissen lässt indem er ein Element des vorherigen Protokolls in die nachfolgenden Sequenz hineinschleppt (so die Rahmungen der Landschaften, die sich bei zwei Zeichnungen der Personen der Kurperiode wieder auftauchen). Man sollte jedoch eher von der Vielfalt der verwirklichten Protokolle und deren Strenge  beindruckt sein.

Eine Reise, die tatsächlich stattgefunden hat

Trotz aller Aspekte, die wie erfunden scheinen, weisen eine Menge konkreter Hinweise darauf, daß an der Realität dieser Reise kaum zu zweifeln ist. Die technische Genauigkeit der Jacken der Postillone und der details ihrer Ausrüstung ist umwerfend. Die seltenen Landschaftsformationen, die während dieser Hinreise vorkommen (z.B., Saulieu, Rochepot) entsprechen der damaligen Geländerealität; die Umgebung von Aix ist besonders genau abgebildet. Die Darstellungen der Kurepisode sind durch ihre Qualität direkter Beobachtung und auch durch die daraus resultierende Sensibilität ganz besonders bemerkenswert. Zu erinnern wäre an den Kreis der Ausländer oder  des Café Dardel. Das Auftauchen eines Postillions aus der Aixer Familie der Guilland ist das Sahnehäubchen dieser Konkretisierung.

Ein Reisender wird Illustrator 

Mittelteil der Frontispizseite (Bl. 2), wie eine Trophäensammlung aus zahlreichen repräsentativen Gegenständen dieser Reise, die sich um eine eingerahmte Tafel entwickelt (die einen Postillionrücken darstellt). Man erkennt Elemente in Verbindung mit der Postkutschenfahrt, wie die Stiefel mit Sporen, eine Pferdehalskette mit kleinen Schellen, eine Kutscherlaterne. Die Badekur ist repräsentiert in Form einer Wasserkanne und einem Tragkorb, der dazu dient,  auf dem Rücken Wasser zu transportieren, sowie durch einen Wasserhahn, einen Duschenkopf oder dazu noch einer Kurgasthaube. Überraschend sind all die Elemente des Landlebens, die der Reisende registriert hat, ohne sie notgedrungen in den laufenden Ansichten seiner Reise darzustellen, wie Weizenkolben und Feldblumen, eine Harke, eine Gabel mit zwei Zähnen, einen Schlegel, ein Hirtenstab, oder die Haube einer Frauentracht, usw.

Die letzte Zeichnung, die der Reisende realisierte ist sicher das Frontipiz, das die Synthese der Reise darstellt. Man muß zuerst anmerken, daß der Reisende während der Reise offensichtlich wohl ständig gezeichnet hat. So wurden die Rücken der verschiedenen Postillone zuerst mit Bleistift (zahlreiche deutliche Bleistiftspuren) während der Fahrt skizziert, dann mit Tinte, wahrscheinlich während der Stationen oder noch zum Teil in Aix, beendet. Das Frontispiz wurde wahrscheinlich nach der Rückkehr in Paris gezeichnet. Der Reisende war sicherlich zu Beginn der Reise in Paris kein Künstler: Auf Grund seiner Zeichnungen erscheint er wie eine sehr phantasiebegabte Person, die vor Ideen überquillt, empathische Qualitäten zeigt und fähig ist, Konzepte auszuarbeiten. Wahrscheinlich kommt er, gut ausgebildet, aus einem wohlsituierten intellektuellen Milieu. Er arbeitet Konzepte aus, setzt sie um und gibt ihnen durch seine Zeichnungen Leben; vielleicht legt er sich das Zeichnen auf, er scheint darin jedenfalls schrittweise eine bessere Hand zu gewinnen. Dieses Zeichenheft erscheint  wie ein Lehrstück. Von der Reichhaltigkeit der aufgegriffenen Themen her, von den Öffnungen her, die er uns anbietet, beweist der Reisende, daß er bei der Ankunft ein Künstler geworden ist. Er bleibt für uns anonym; hat er ausgeharrt?

Eine moderne Lektüre

Dieses Zeichenbuch ist vor mehr als 170 Jahren geschaffen worden: Mit dem Abstand und der Kenntnis der künstlerisch-literarischen Bewegungen, die in diesem langen Zeitabstand, manchmal auf wetterwendige Weise aufeinander gefolgt sind, kann man eine Entschlüsselung versuchen, die, im Vergleich zur Schaffungsepoche, ein wenig künstlich erscheinen mag, aber hat Marcel Duchamp nicht gesagt: C’est le regardeur qui fait le tableau / „Der Zuschauer macht das  Bild” …

Eine in seine Bestandteile zerlegte Bewegung

Der Zeichner hat 52 Postillone in diesem Reisebuch dargestellt. Beim der ersten Betrachtung fällt dem Betrachter eine gewisse Steifheit der ersten dargestellten Postillione auf.

Allerdings kann durch die Zusammenstellung von zwei oder sogar drei Postillone auf derselben Seite auf die Absicht einer gewissen Bewegungswirkung geschlossen werden. Hinzu kommt, daß eine nicht ganz systematische Progression der Vermehrung der Ausrüstungsgegenstände des Postillions festzustellen ist: Die Armbinde, die Peitsche, die Zügel, die Stiefel, ein Teil vom Sattel und sogar, während der Rückkehrreise, teilweise das Pferd.

Wenn man das Reisebuch schnell durchblättert verhält es sich wie ein Bewegungsbild. Manche Postillone sind auf ihrem Sattel zusammengestaucht, andere stehen danach auf, richten sich hoch auf ihren Steigbügeln, oder schwenken sich in ihrem Sattel; die Peitschen stehen manchmal still, und zeichnen später ausschweifende Bewegungen. Man muß an ein flip book denken, das in Deutschland auch durch den lustigen Namen „Daumenkino“ bekannt ist. Die Bewegung der Bilder wird durch das Blättern der aufeinanderfolgenden Postillone verursacht. Es ist gut möglich, daß unser Reisender, der sicher aus wohlhabenden Kreisen stammt, die ersten bewegten lebhaften Bilder gekannt hat und bewußt oder unbewußt Nutzen daraus gezogen hat: der Thaumatrope ist 1825 erschienen und Joseph Plateau hat seinen Phenakistoscope 1827 vorgestellt.

Ein “absurder” Standpunkt: Beschränkungs- oder Einschränkungsprotokolle

Die Einschränkung, die der Zeichner sich auferlegt kann absurd erscheinen für denjenigen, der konventionelle Landschaftsansichten von der Hin- und Rückreise erwartet. Der Reisende lehnt anfangs die Landschaftsdarstellung klar ab: Nur aus Unachtsamkeit schleichen sich zwei oder drei Landschaftselemente in dem der Hinreise gewidmeten Teil ein; die Landschaft ist im Teil der Rückkehr fast gänzlich abwesend (außer der weit entfernten Kirche von Solothurn). Durch die Huldigung an die in Trachtenkleidern gewandeten jungen Damen findet man eine Bressanne auf der Hinreise und drei Schweizerinnen auf dem Rückweg, so dass die gute Ordnung des Postillonsrückenprotokolls gestört ist. Dabei beweist der Autor des Zeichenbuches doch ab seiner Ankunft in Aix , daß er auf die Landschaft sehr aufmerksam eingehen kann: Er widmet sich dieser minutiösen Arbeiten, aber dabei verschwindet dann der Mensch völlig oder er kommt nur zu mikroskopischen Figürchen reduziert vor. Dann wiederum nimmt der Mensch in dem Teil, der der Kurepisode gewidmet ist, seinen ganzen Platz ein.

Es scheint klar, daß der Reisende sich Vorgehensweisen vornimmt und sich daran hält. Den geschaffenen Bildern fehlt es nicht an Distanz und Humor: Wie könnte man nicht an die französischen Hydropathes und an andere Aktivisten der Arts Indépendants / „Unabhängigen Künsten“ zu Ende der 1870er Jahre und zu Anfang der 1880er Jahre denken. Es gibt dort ein ganzes Sammelsurium von Abkommen, Protokollen, Prozessen mit der Absicht, zum Lachen zu bringen. In diesem gezeichneten Reisebericht muss man noch bemerken, dass, sobald der Autor wirklich Kranke oder kleine Leute darstellt,  die kritische oder satirische Distanz verschwindet.

Der Zeichner dieses Reisebuches lässt sich in die Vorgeschichte der Illustration-Kunst einordnen. Er ist kein unvergleichlicher Zeichner, aber er hat Intuitionen, geniale Vorahnungen. Andere aus derselben Zeit, wie Jean-Jacques Grandville, Honoré Daumier oder, bald darauf der junge Gustave Doré sind von solchen Schlag .

Dieses Reisebuch ist von einer Reichhaltigkeit, die noch weiter zu erforschen wäre. Wie könnte man sich nicht an die am Anfang des 20. Jhd. durch Raymond Roussel gemachte Auswahl für verschiedene künstlerische Leistungen erinnern. Dieser vor-surrealistische Schriftsteller (und Performer zu seiner Zeit) reiste, wie unser im Postwagen eingeschlossener Reisende: Roussel hatte sich öfter zur Isolation entschlossen, umso keine Landschaften zu sehen. So schließt er sich, in Tahiti (!) in seine Hütte ein, er macht eine lange Reise nach Italien in einem automobilen Gehäuse, das er sich bauen ließ, und bleibt während dieser „Vergnügungsreise“ vollständig im Gehäuse eingeschlossen. Man kann auch an fortentwickelte konzeptuelle Protokolle denken – 120 Jahre nach unserem Reisenden – von den Künstlern der Fluxus-Bewegung, so von Joseph Beuys, der eine Reise in die USA macht (um sich mit einem Steppenwolf, als Symbol für Amerika, in einem Käfig zu konfrontieren) und der sich weigert den amerikanischen Boden zu berühren oder einfach wahrzunehmen. Zum Schluss sollte man noch weitaus jüngere Beschränkungsprotokolle erwähnen : So die Benutzung oder die Nichtbenutzung von Feldern (in Comics) oder die Anrufung von weiteren vorgeschriebenen Protokollen in der jüngsten Bewegung OuBaPo (Ouvroir de Bande dessinée Potentielle / „Werkstatt für potentielle Comics“), die die Art der etwas älteren literarischen Bewegung OuLiPo (Ouvroir de Littérature Potentielle / „Werkstatt für Potentielle Literatur“) nachahmt. Die Mitglieder all dieser Bewegungen gehen in ihren aktuellen Werken, wie unser Reisende vor 175 Jahren, von Protokollen aus, seien es Beschränkungen literarischer oder zeichnerischer Art aus.

François Pétry

Dieser Text ist in La Séquence du regardeur, Actes du colloque sous la direction d’Olivier Deloignon et Guillaume Dégé, Laboratoire De traits et d’esprit, Haute Ecole des arts du Rhin, Strasbourg, 2014, erschienen. Hier, in der deutschen Version, ist der Text verbessert und mit mehr Illustrationen angereichert.

(Bildnachweis: Sammlung François und Mireille Pétry)