“Esprit Montmartre” – The perpetuation of the cliché


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Zur Ausstellung “Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900” in der Schirn Kunsthalle Frankfurt.

Das geballte Medienecho zur Ausstellung in der Schirn Kunsthalle klingt verheißungsvoll. Die Pariser Bohemekultur um die Jahrhundertwende erscheine hier in einem völlig neuen Licht, nicht länger in der realitätsfernen Weichzeichnung touristischer Projektion, vielmehr zeige sich der Montmartre hier, wie er tatsächlich war, als urbanes Elendsquartier, in dem die sozialen Konflikte der Belle Époche offen zu Tage getreten sind. Es sei das Verdienst der Ausstellung, so der Tenor, die wahren Verhältnisse hinter den pittoresken Sujets der Künstler entdeckt zu haben, das handgreifliche Elend hinter den Bildern von melancholischen Absinth-Trinkern, Wäscherinnen und Schaustellern, den prekären Fond aus Modellmarkt und Prostitution hinter den frivolen Aktdarstellungen.

Dieser angesagte sozialhistorische und stadtgeschichtliche Kontext vermittelt sich in der dicht gehängten Ausstellung (mit einer oft redundanten Bildauswahl) dank einer geschickten thematischen Gliederung, einem einleitenden Tableau fotografischer Aufnahmen und den kommentierenden Wandtexten. Unter den präsentierten Werken sind es vor allem die Arbeiten von Ramon Casas und Santiago Rusinol, die einen lebendigen Eindruck von der Tristesse der Cabaret – und Bohème-Kultur der Zeit liefern. Die beiden spanischen Künstler hatten zu Ende der achtziger Jahre auf dem Montmartre eine katalanische Künstler-Community implementiert und damit auch ihrem weitaus jüngeren Kollegen Pablo Picasso, der eine Dekade später in Paris eintraf, den Weg geebnet.

Santiago Rusiñol, Erik Satie, bohéme, 1891  (Source: Wikimedia Commons)

Oswald Heidbrinck, Comment on prépare son “Salon”- à Montmartre, Le Courrier francais, 1887 (MePri-Coll.) Aus einer Gegenüberstellung von der reichen Salonkunst der Avenue de Villiers und dem armen Salon des Montmartre.

Im Vergleich mit dem trockenen fotografischen Sozialrealismus von Casas und Rusinol wirken Picassos Elendsdarstellungen reichlich manieriert. Dass der Miserabilismus seiner blauen und rosa Perioden, der sich an Grafiken von Honoré Daumier, Daniel Urrabieta y Vierge, Oswald Heidbrinck und Theophile Steinlen orientierte, kein Entwicklungspotential barg, wird in diesem Zusammenhang sehr deutlich. Zu sehen sind auch einige der frivolen Pressegrafiken, die Picasso anfangs unter seinem Patronym Ruiz für Illustrierte wie Le Frou-Frou und Le Gil Blas zeichnete. Im Gegensatz zu vielen seiner Künstlerkollegen wie Kees van Dongen, Juan Gris oder Felix Vallotton, die auf dem Feld der Illustration sehr erfindungsreich und herausfordernd agierten, zeigte Picasso sich hier eher zurückhaltend und epigonal zur Grafik des von ihm verehrten Henri de Toulouse-Lautrec. Es ist ein weiteres Verdienst dieser Ausstellung, daß sie die engmaschigen künstlerischen Netzwerke der Malereiszene zur Anschauung bringt und dadurch auch einige genealogische Zusammenhänge sichtbar machen kann.

P. Ruiz , Le Frou Frou, 18.01.1902 (MePri-Coll.)

Der Zeitrahmen, der hier abgesteckt wird, setzt mit der Entwicklung des Postimpressionismus ein, genauer gesagt mit der Ankunft van Goghs 1886. Dass van Gogh während seines kurzen Intermezzos auf der butte vor allem als Kurator einer opulenten Druckgrafikausstellung in Erscheinung getreten ist und sich darüberhinaus auch mit Ambitionen als Plakatkünstler trug, kann kaum überraschen, wenn man zum einen dessen enthusiastisches Verhältnis zur Illustrationskunst berücksichtigt und zum anderen in Betracht zieht, dass die Montmartre – Kultur gerade nicht auf das klassische Tafelbild abzielte, sondern vor allem eine progressive Kultur der Populärgrafik war, der Plakatkunst, der Schildermalerei und der Pressegrafik.

Eugène Atget, Plakatwände in der Rue de l’Abbaye, 1898 (© Bibliothèque nationale de France, Estampes)

Bias, Le Directeur perpetuel des Incoherents (Jules Lévy), Le Courrier francais, 1886 (MePri-Coll.) 

Die Künstler der butte partizipierten an der Entwicklung der modernen Massenkultur im Vergnügungsviertel des unteren Stadtquartiers nicht nur als Auftragsnehmer, sie durchdrangen diese Populärkultur auch künstlerisch in ihren Arbeiten und begannen sich dadurch mehr und mehr von den konventionellen Anschauungen des Tafelbilds zu lösen. Auf die überbordende Präsenz von Drucken wird in der Ausstellung und im Katalog verwiesen, unter anderem durch die Information, dass in dem Vergnügungsquartier allein im Jahr 1891 2233 verschiedene Poster zum Aushang kamen. Auch die große Flut libertinärer illustrierter Periodika, für die die Künstlerszene arbeitete, wird thematisiert. Einige dieser illustrierten Blätter wie Le Chat Noir, Les Quat´-z-Arts und Le Militon trugen nicht nur die Namen der bekannteren Szenecabarets und reproduzierten die Texte der dargebotenen Chansons, sondern wurden von diesen auch selbst herausgebracht. “Zu dieser Zeit war der Einfluss der Presse auf die Kunst konkurrenzlos,” erinnerte sich Jacques Villon. “Er trug dazu bei, die Befreiung der Malerei aus den Fängen des Akademismus zu beschleunigen.”

In dieser Ausstellung, die als klassische Malereiausstellung mit “hochkarätigen Künstlerpersönlichkeiten“ (Katalogvorwort Max Hollein) konzipiert ist, kommt diese innovative Populärgrafik eindeutig zu kurz. Die Verhältnisse werden hier auf eine nicht nachvollziehbare Weise auf den Kopf gestellt. Die Malerei tritt hier als Leitmedium auf und die Grafik erscheint als Annex, der den Entwicklungen auf dem Tafelbild hinterher illustriert.

Die wenigen gezeigten Plakate und Magazinseiten, zumeist mit den sattsam bekannten Moulin Rouge – und Chat Noir– Motiven, die überwiegend von Toulouse -Lautrec stammen, vermitteln keinen Eindruck von dem breiten Spektrum an grafischen Erfindungen, die auf die Illustrationskultur weltweit ausgestrahlt haben. Darin ging es eben um weit mehr als Cancan-Tänzerinnen im Gewand eines geschmäcklerischen Japonismus. Und obgleich in einem Katalogbeitrag von Philip Dennis Cate die These von der Anschlussfähigkeit der Montmartre-Kultur an die Moderne mit einem Zitat von Marcel Duchamp unterlegt wird, in dem dieser ausdrücklich auf die lokale Karikaturszene verweist, wird gerade dieser fundamentale Impuls, der sich nicht nur auf die Kunst eines Toulouse-Lautrec ausgewirkt hat, sondern beispielsweise auch auf die Entwicklung des Kubismus, in der Ausstellung völlig ausgeblendet; ja es gelingt hier sogar, den wichtigsten Karikaturisten der Epoche, André Gill, gänzlich aus der Historie des Distrikts hinaus zu komplementieren.

André Gill, Lapin Agile, Cabaretschild , Öl auf Holz, 1875

André Gill, Selbstbildnis in Charenton, La Nouvelle Lune, 1882 (MePri.- Coll.)

Gill hatte den bohemischen Esprit des Montmartre seit den 1860er Jahren stärker geprägt hat wie jeder andere. Im Katalogbuch, das sich auf Grund des fehlenden Registers nicht zum Nachschlagen eignet, findet der Zeichner, Dichter und Maler nur ganz am Rande, im biografischen Anhang, Erwähnung, und zwar als Lehrer des Malers und Grafikers Jean-Louis Forain. Nach seinem Tod 1885 in der psychiatrischen Anstalt Charenton war der Ex-Kommunarde Gill, der mit seinen Anti-Zensurkampagnen dem bohemischen Widerstandsgeist ein Gesicht verliehen hatte, auf dem Montmartre präsenter denn je. Die Namen zweier bekannter Cabarets rekurrierten auf ihn, das Le Lapin Agile (lapin à Gill), in dem die Kubisten verkehrten und das La Lune rousse. In den prädadaistischen Künstlerorganisationen des Quartiers stieg der tote Karikaturist, der in den lunaren Sphären der Umnachtung entschwunden war, binnen kurzem zum Säulenheiligen eines zerbrochenen inkohärenten Kunstbegriffs auf. 1886 feierte diese Künstlergruppierung des Montmartre, die unter der Bezeichnung Les Arts Incohérents firmierte und die mehrheitlich aus Karikaturisten und Dichtern bestand, ihren größten Triumph mit einer viel beachteten Ausstellung im gründerzeitlichen Éden-Théâtr des arrivierten 9. Arrondissements. Die Show, die von einem Massenpublikum besucht wurde und von einem illustrierten Katalog begleitet war, propagierte auf programmatische Weise eine Kunst des Unsinns und der formalen Ungekonntheit. Das Datum ist bemerkenswert, denn es koinzidiert mit dem Zeitpunkt, in der die Ausstellung in der Schirn einsetzt.

 J. Favebot, L´Exposition des véritables Incohérents, Le Courrier francais, 1886

Emilé Cohl, Synthetisions!, Le Courrier francais, 1887 

Artistide Boulineau, Cap, Catalogue illustré des Exposition des Arts Incoherents, 1886 (MePri-Coll.)

Amédée Marandet, Esprit a 90, Catalogue illustré des Exposition des Arts Incoherents, 1886 (MePri-Coll.)

Es stellt sich die Frage, warum eine solch radikale künstlerische Setzung, die eine Grundlage war für die kommenden Fusionen von Sub- und Hochkultur, aus einer Ausstellungskonzeption ausgeklammert wurde, die den Esprit des Ortes beschwören will. Vertrugen sich die literarischen Abstraktionen der Inkohärenten nicht mit dem malerischen Realismus, der die Ausstellung dominiert? Fakt ist, dass der Geist der Opposition, der in solchen frühavantgardistischen Aktionen der Illustratorenszene zum Ausdruck kam und der von der akademischen Seite zu Recht als Ausdruck von Anarchismus beargwöhnt wurde, diametral einer Repräsentanz entgegen steht, die von einer Vorstellung „hochkarätiger Künstlerpersönlichkeiten“ getragen ist. Dem offenen egalitären Geist des historischen Montmartre entspricht ein touristischer Bildermarkt auf dem Place du Tertre viel eher als eine Ausstellung, die das Hautgout musealer Exklusivität mit einer vorgeschalteten Geste von cultural studies nur schlecht überspielen kann.

Ausstellung Schirn (Source: www.flickr.com/photos/barbara-walzer)

Mit dem kümmerlichen Auftritt der Populärgrafik geht eine weitest gehende Aussparung des Politischen im Ausstellungsbild einher. Zu dem Zeitpunkt als van Gogh die butte betrat, die Inkohärenten das elitäre Künstlerbild nachhaltig unterminiert hatten und die Ausstellung in der Schirn beginnt, waren gerade erst einmal fünfzehn Jahre seit den katastrophalen Ereignissen um die Pariser Kommune vergangen. Diese hatten auf dem Montmartre ihren Ausgang genommen und dort auch ihr Epizentrum gehabt. Die Erinnerung an das von der bourgeoisen Übergangsregierung verordnete Massaker an mehr als 30 000 gefangenen Kommunarden und den anschließenden Verurteilungen, Ausweisungen und Massendeportation in überseeische Straflager hatte zu dieser Zeit erst wenig von ihrer gesellschaftlichen Sprengkraft eingebüßt. (Prosper Lissagaray bilanziert in seiner Geschichte der Commune von 1871 die Opferzahl auf annährend 107 000) Zwischenzeitlich war dem notorischen Widerstandshügel ein mächtiger ekklesiastischer Büßerstachel in der Gestalt einer überdimensionierten Basilika eingerammt worden. Die Bauarbeiten an diesem Sacré Coeur genannten Monstrum sollten bis 1914, dem Ende der Ausstellungsetappe, andauern.

Theophile Steinlen, Les Communeux -Votre Republique est fille de notre sang!, Le Chambard Socialiste, 1894 (MePri-Coll.)

Theophile Steinlen, Dans tout sa glorie, Le Chambard Socialiste, 1894 (MePri-Coll.)

Die Hoffnung der großbürgerlichen Presse, dass dem anarchischen Spuk der Pariser Boheme mit den Massenexekutionen und Deportationen endgültig der Garaus gemacht worden sei, erwies sich längerfristig als trügerisch. Die Kunst der Impressionisten, die unmittelbar nach den Kommune-Ereignissen auf den Plan getreten waren, hatte diesen frohen Erwartungen durchaus entsprochen. Zuerst war die Gruppierung mit dem anarchistischen Etikett Les intransigeants (Die Kompromisslosen) versehen worden, benannt nach einer radikalen Splittergruppe des spanischen Bürgerkriegs, dann stellte sich aber schnell heraus, dass sich deren Radikalität nicht länger wie bei Courbet und Manet mit politischen Inhalten verband, sondern in einen ästhetizistischen Eskapismus abgeleitet wurde.

Der durch rigide Zensurmaßnahmen erzwungenen Verdrängung des Kriegs- und Kommune- Traumas von 1870 /71 wurde schließlich unter der linksliberalen Regierung von Jules Grévy mit der Generalamnestie für politische Häftlinge (1880) und der Aufhebung der politischen Zensur  (1881) ein Ende gesetzt. Der klassenkämpferische Gestus der Kommune trat seit dieser Zeit auf der butte wieder offen zu Tage. Dabei geriet die Erinnerung an die Kommune mitunter zum spekulativen Event, wenn beispielsweise der Ex-Kommunarden Maxime Lisbonne mit der La Taverne du Bagne ein Themen-Cabaret eröffnete, in dem sich der vergnügungssüchtige Bourgeois in Häftlingskleidung und bei schmaler Kost in die Situation eines politischen Strafgefangenen versetzen durfte.

Die Repolitisierung der Pariser Boheme war unter anderem auch dem Vorbild des charismatischen Jules Vàlles zu verdanken, der nach einem Jahrzehnt des Exils seit 1881 wieder in Frankreich publizieren konnte. Der anarchistische Aktivist und Literat zählte neben seinen Freunden Gustave Courbet und André Gill zu den zentralen Künstlergestalten der Kommune. Bewundert von Emilé Zola hatte Vàlles bereits in der 1850er Jahren Henri Murgers romantischem Bohemien-Klischee eine Reihe von krass naturalistischen Schilderungen vom Überlebenskampf des Bildungsprekariats entgegengestellt. Vàlles unbeugsame Haltung, seine ätzende Kritik am autoritären Erziehungssystem und klassischen Bildungsinhalten, sowie seine rohe, verknappte Ausdrucksweise inspirierten auch bildende Künstler wie Charles Maurin und Felix Vallotton.

Dass eine umfangreiche Ausstellung und Publikation zur Pariser Boheme um 1900 heute ohne Referenzen auf Künstler wie Vàlles oder Gill auskommen kann, ist kein eigentümlicher Lapsus, sondern zeugt vielmehr von der Nachhaltigkeit einer Geschichtskonstruktion nach 1900, die das Kommune-Debakel und deren Protagonisten in kultureller Hinsicht weitgehend ausgeblendet hat. Nach dem Junimassaker von 1848 war die Niederschlagung der Kommune die zweite grosse Verdrängungsleistung des französischen Bürgertums. Es bedurfte weiterer Einschnitte und Zäsuren wie den russischen Revolutionsereignissen und den beiden Weltkriegen, um auf diesen Serien von Blackouts die marktstimulierenden Mythen avantgardistischer Brüche und modernistischer Nullstunden zu etablieren. Dabei verliefen, wenn man die jeweils weggeblendeten subkulturellen Perspektiven mit in Betracht zieht, die Entwicklungen kontinuierlich.

Felix Vallotton, Là dedans tu pourras gueuler !.., Assiette au beurre, 1902 (MePri-Coll.)

In der Ausstellung genügt ein dürrer Hinweis, dass einige der Montmartre-Künstler für anarchistische Magazine gezeichnet hätten, um die politischen Sympathien und Überzeugungen eines Großteils der gezeigten postimpressionistischen Künstlerschaft zu charakterisieren. Zwar widmet die Kuratorin Ingrid Pfeiffer einen kurzen Abschnitt ihres Katalogessays der politischen Publizistik der Künstlerszene, ein weiterer Beitrag von Anita Hopmans analysiert das Umfeld des radikalisierten Kees van Dongen; für die Ausstellung haben diese Erkenntnisse allerdings keine Folgen. Auffällig ist vielmehr, dass keine Arbeiten mit anarchistischen oder sozialistischen Inhalten gezeigt werden. Das bildnerisch explizite Anarcho-Magazin L´Assiette au beurre ist beispielsweise nur mit unverfänglichen Sozialthemen und frivolen Cabaret-Darstellungen von Henri-Gabriel Ibels vertreten.

Henri-Gabriel Ibels, Genre anglais, L´ Assiette au beurre, 1901 (MePri-Coll.)

Dabei hätte es doch auf der Hand gelegen, diesen gewichtigen Aspekt bohemischer Bildpublizistik anhand einiger der zahllosen politischen Grafiken von Theophile Steinlen, Frantisek Kupka oder Felix Vallotton zu dokumentieren. In dem 1899 entstandenen lithografischen Blatt Le Fous stellte beispielsweise der eng mit den Anarchistenzirkeln des Montmartre verbundene Frantisek Kupka einen konfrontativen Zusammenhang her zwischen der boomenden Vergnügungsindustrie des Viertels mit dem in der Ausstellung bis zum Überdruss vorgeführten Sujet der melancholischen Gaukler und den explosiven ideologischen und ökonomischen Konflikten der Zeit.

Frantisek Kupka, La seule!.., L´ Assiette au beurre, 1904 (MePri-Coll.)

Frantisek Kupka, Les Fous, 1899 (MePri-Coll.) – Die Lithografie wurde auf den Weltausstellungen in Paris (1900) und in St. Louis (1904) gezeigt.

Theophile Steinlen figuriert in der Ausstellung als Hauptvertreter einer sozialkritischen Richtung. Er war einer der produktivsten Zeichner der Szene. Unter seinen zahllosen Illustrationen, die er für die Illustrierte Le Gil Blas fertigte, sticht die Bebilderung eines populären Chansons von Aristide Bruant über das Frauengefängnis und Lazarett Saint-Lazaire hervor. Vor ihrer Deportation nach Neukaledonien wurden dort führende  Revolutionärinnen der Kommune wie Louise Michel festgehalten. Picasso rekrutierte später etliche der Motive seiner blauen Periode aus Studien, die er dort vor Ort von inhaftierten Prostituierten gemacht hatte.

Theophile Steinlen / Aristide Bruant, A  Saint-Lazare, Le Gil Blas, 1891 (MePri – Coll.)

Dass Steinlens engagierte Kunst, deren klassenkämpferischer Duktus bis hinein in die russische Revolutionsgrafik gewirkt hat, in der Ausstellung nur mit einem launischen Genrebild zu den Feierlichkeiten des Nationalfeiertags belegt ist und einigen sentimentalen Bettlerdarstellungen, die ihn als Vorbild Picassos ausweisen sollen, ist ein weiteres Indiz für den weitest möglichen Ausschluss des Politischen. Über die Beweggründe lässt sich nur spekulieren. Wollte man ein an Vincente Minelli und Maurice Chevalier gewöhntes Publikum nicht durch ein Übermaß an Kontextualisierung verschrecken?

Von einem politischen Kontext oder einer Kultur der Revolte will jedenfalls weder der Direktor der Schirn Max Hollein etwas in seinem Vorwort wissen, noch der Sponsor, die Amundi-Investment Gruppe. Die begründet in ihrem Grußwort ihr Investment in die Ausstellung mit dem Hinweis auf ihre Weltoffenheit, die auch eine Bebilderung von „tragischen Momenten des Alltagslebens“ goutieren kann. Auf der Website dieses grössten europäischen Vermögensverwalters spricht man von „melancholic moments.“ Doch ganz im Gegensatz zum blauen Picasso, auf den damit wohl besonders angespielt wird, beließen es Steinlen und andere anarchistische Künstler des Montmartre keineswegs bei Darstellungen melancholischer oder tragischer Momente, sondern sie bezeichneten auch in aller Deutlichkeit die Machenschaften, die sie für die Ursachen solcher Verhältnisse hielten, wozu vor allem der Sektor der Finanzspekulation zählte.

Theophile Steinlen, Arguments frappants, La Feuille de Zo d´Axa, 1900 (MePri-Coll.)

Frantisek Kupka, Liberté, L´ Assiette au beurre, 1902 (MePri-Coll.)

Antisemitismus von rechts und auch von links hatte in diesem Zusammenhang Hochkonjunktur in den Vergnügungshallen der Belle Époque. Ein hervorragender Vertreter  dieses Ressentiments war der Chansonnier und Cabaret-Betreiber Aristide Bruant, dessen schwarz gewandete Gestalt einem in der Ausstellung mehrfach in den bekannten Interpretationen von Toulouse-Lautrec begegnet. Die Melange aus kernigen nationalistischen, sozialistischen und antisemitischen Überzeugungen, die er in seinen Chansons réaliste verbreitete, war ein ganz besonderes Ferment.

Theophile Steinlen / Aristide Bruant, La vigne au vine, Le Gil Blas, 1891 (MePri – Coll.)

Die libertinäre Zone Montmartre fungierte um die Jahrhundertwende als eine Art Überdruckventil für die sozialen und politischen Verwerfungen der Zeit. Ihr Esprit roch damals stark nach Dynamit und Revolution. Die Szenecabarets boten sowohl einem Rechtsputschisten wie Georges Boulanger ein Forum, wie auch den Sympathisanten des anarchistischen Sprengstoffattentäters Ravachol. Zu der Vielzahl von Szenekünstlern, die von Ravachols terroristischer „Propaganda durch die Tat“ angezogen waren, zählte auch Charles Maurin, der ein enger Freund von Felix Vallotton, von Henri de Toulouse-Lautrec und Aristide Bruant war. Kurz nach Ravachols Hinrichtung unter der Guillotine schuf Maurin einen weit verbreiteten Holzschnitt des anarchistischen Märtyrers. Das Blatt wurde 1893 in einer von Theo van Gogh vermittelten Doppelausstellung in der arrivierten Pariser Galerie Boussod-Valadon et Cie zusammen mit Plakaten und Malereien von Toulouse- Lautrec gezeigt.

La Dynamite a Paris, Le Petit Journal, 1892

Henri Meyer, L´Arrestation d´Ravachol, 1892

Charles Maurin, Ravachol devant l´histoire, 1893 (Source: Wiki commons)

Jules Cheret shows Henri de Toulouse-Lautrec one of his posters (Source: Wiki commons)

Man kann davon ausgehen, dass diese Kombination von radikaler Propaganda und Lautrecs Postern als völlig stimmig erachtet wurde. Darauf weist beispielsweise eine Besprechung der grellen Cabaret-Plakatkunst durch den äußerst einflussreichen anarchistischen Kritiker Félix Fénéon hin, aus der Dieter Scholz in seiner umfangreichen Untersuchung zu Anarchismus und moderner Kunst (“Pinsel und Dolch”, Berlin 1999) zitiert. Fénéon charakterisierte hier den fetzigen und grellen Stil eines Jules Chéret und eines Toulouse-Lautrec als “lebendig wie Dynamit” und empfahl seiner radikalen Leserschaft, deren Plakate von den Wänden zu reißen um sie sich in einem Akt anarchistischer Selbstermächtigung anzueignen. Der vorliegende Versuch, eine Light-Version der Montmartre-Kultur zu kreieren, die sozialrealistisch aber politfrei daherkommt, wäre wohl von einer Vielzahl der Protagonisten dieser Ausstellung im klassenkämpferischen Jargon der Zeit als völlig reaktionär eingestuft worden.

Eine anarchistische Hochburg war auch der verwahrloste Atelierkomplex Bateau-lavoir, in dem der Kubismus ausgebrütet wurde. Picasso stand als notorischer Sympathisant des anarchistischen Aktionismus unter polizeilicher Beobachtung. Zu seinen Bekannten zählte Jules Bonnot, ein weiterer “Propagandist durch die Tat”, der mit seiner Anarcho-Fraktion 1911 und 1912 eine Reihe von Banküberfällen und Morden beging. In einer Zeitungs-Collage von 1912 spielte Picasso auf diese Aktionen der Bonnot-Bande an. Picassos Kunst wurde von Apollinaire auch in diesem Zusammenhang rezipiert.

Mit der Entwicklung des Kubismus auf dem Montmartre setzte ein sympathetisches Verhältnis zwischen politischem Terrorismus und den künstlerischer Avantgarden ein. Die Geste des in die Luft gefeuerten Revolvers, mit der Picasso damals auf Fragen nach dem ästhetischen Hintergrund seiner Arbeit zu reagieren pflegte, verweist in größtmöglicher Direktheit auf diesen Zusammenhang zwischen anarchistischer “Propaganda durch die Tat” und dem raumsprengenden Terror des Kubismus.

Henri Gustave Jossot , L´ Assiette au beurre, 1903 (MePri-Coll.)

Georges Braques, Violine and candlestick, 1910 (San Francisco Museum of Modern Art)

Die unterschiedlichen künstlerischen Milieus des Montmartre, die durch einen breiten antiakademischen und antibourgeoisen Konsens verbunden waren und mühelos zwischen sub- und hochkulturellen Sparten wechseln konnten, begannen sich in diesem Punkt formaler und ideologischer Unbedingtheit zu scheiden. Die Lagerbildungen, die sich abzuzeichnen begannen, definierten die weiteren Entwicklungen der Kunst des 20. Jahrhunderts.

Kaum etwas von diesen tiefgreifenden Spannungen vermittelt diese Ausstellung. Stattdessen implodiert sie in einer Perpetuierung musealer Konventionen und kunsthistorischer Klischees. Das ist mehr als ärgerlich, denn eine kritische Revision des Esprit Montmartre, auf dem das hochgestapelte Wertesystem moderner und nachmoderner Kunst basiert, wäre dringend notwendig.