The birth of the artistic avant-gardes out of the spirit of salon caricature. A draft.


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Die Erfindung archigenetischer Gründungsmythen scheint eine der eigentümlichsten und nachhaltigsten Leistungen der Moderne gewesen zu sein. Schaut man sich  die Entwicklungsstränge  der Kunst des  frühen 20. Jhds. aus der Perspektive des Sonnendecks gängiger Kunstgeschichtsschreibung an, dann erweist sich das Auftauchen anarchischer Gruppierungen wie der Dadaisten und Surrealisten als ein schockierender Einbruch aus heiterem Himmel  in die gemütliche Tradition bourgeoiser Ausstellungspraxis. Aus der Kellerperspektive des Maschinenraums einer Illustrationsgeschichte, die  eine noch weitgehend Ungeschriebene ist, vermittelt sich jedoch ein ganz anderes Bild, nämlich das eines sehr folgerichtigen und kontinuierlichen Entwicklungsgangs, in dem sich die künstlerische Vorhut eher als eine Nachhut erweist, die in der Ausbildung ihrer „revolutionären“ Techniken und Strategien auf eine lange Tradition subversiver Gegen-Kunst zurückgreifen konnten.

Die Präsentation des Melton Prior Instituts im Rahmen der Ausstellung “Karl Valentin, Komik und Kunst seit 1948” (Münchner Stadtmuseum, 24. Juli – 15. November 2009) versucht anhand einiger ausgewählter Exponate eine  Traditionslinie graphischer Kunstkritik nachzuzeichnen, die zu Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich in eine Bewegung mündete, die lustvollen Unsinn und schöpferischen Dilettantismus  als Endzweck  von Kunst predigte und praktizierte. Sie versteht sich als eine Hommage an den Künstler Karl Valentin, der als die Inkarnation einer Cartoon-Figur dieser Illustrationswelt geradezu entsprungen zu sein scheint und dessen Unternehmung eines anarchisch – ikonoklastischen Museums ohne den  Hintergrund einer langen Tradition von Salonkarikatur, die sich in der reichhaltigen satirischen Presse Münchens vielfach gespiegelt fand, überhaupt nicht denkbar gewesen wäre.

1) John Leech´s „Cartoon No. 1: Substance  and Shadow“ war der erste Cartoon im geläufigen Sinn des Wortes. Mit diesem bissigen sozialkritischen Kommentar auf die  Präsentation  von Vorstudien ( franz. „Cartons“)  zu  einer Reihe von geplanten historischen Fresken  leitete sich in der Ausgabe des Londoner „Punch“ vom Juli 1843  die Umprägung dieses Begriffes ein. Leech folgt hier dem Vorbild von Bertall, Cham, Daumier und anderen Zeichnern des Pariser Karikaturmagazins “Charivari“, die seit 1834 den Bürgerlichen Kunstbetrieb der Julimonarchie zum häufigen  Gegenstand ihrer Bildsatiren nahmen.

John Leech

2)  Im April 1846 erschien  anonym unter dem Titel „Le Salon caricatural“ eine 32seitige Broschüre mit 60 Kunstkarikaturen vom Salon 1846, die in etlichen der imaginierten Exponate  Erfindungen der „Les Arts Incohérents“ vorwegzunehmen scheinen. Die Zeichnungen stammen von Raymond Pelez, der die Reihe der Salonkarikaturen am 19.3.1843 im „Charivari“ begründet hatte. Als Autor des Prologs und der Textkommentare vermutet man Charles Baudelaire. (Reprint von 1932)

Charles Baudelaire / Raymond Pelez

3) Eines der seltenen Beispiele früher deutscher Salonkarikatur stammt von dem jungen Wilhelm Scholz, einem Pionier  der politischen Karikatur in Deutschland, der sich mit seinen Illustrationen zu Ernst Kossaks Buch über „Die Berliner Kunstausstellung im Jahre 1846“ für eine Anstellung als Chefzeichner des Satiremagazins “Kladderadatsch“ qualifizierte. Das Genre der Kunstkarikatur konnte in Deutschland allerdings erst  um die Jahrhundertwende mit der Gründung des Münchner „Simplicissimus“ und der „Jugend“ richtig Fuß fassen.

Ernst Kossak / Wilhelm Scholz

4) Den höheren Abstraktionsgrad der reinen Linienzeichnung, der  sich mit der Umstellung der satirischen Presse von der Lithografie auf den Holzstich eröffnet hatte, verstand der junge Gustave Doré besser wie jeder andere zu nutzen. In seinen frühsten Auftragsarbeiten für Philipons „Journal pour rire“ von 1848 entfachte er ein wahres Feuerwerk bildnerischer Einfällen, die von kindischen Kritzeleien bis zur Monochromie reichten. Doré synthetisierte Einflüsse von Rodolphe Töpffer, von Grandville, Cham, Bertall und  Punch – Zeichnern wie Richard Doyle zu einem ausgedehnten zeichnerischen Register, auf dem nicht nur die Entwicklung des Comic gründet, sondern auch der  weitere Aufstieg der Salonkarikatur.

Gustave Doré

5) Seit 1852 verfasste Nadar, der Luftfahrt-Unternehmer, Celebrity- Fotograf  und Erfinder des politischen Comic-Strip, unter dem Reihentitel „Nadar Jury“ seine graphischen Kommentare  zum alljährlichen Salon für das „Journal Amusant“, ein humoristisches Magazin, für das später auch der junge Marcel Duchamp  zeichnete.  (Abb. Journal amusant nr. 289, 13. 7. 1861)

Nadar

6) Gustave Courbet  und Edouard  Manet, die beiden Salon-Provokateure, standen wie  nur wenige andere Künstler im kontinuierlichen Sperrfeuer der Kunstkarikatur. ”Dabei  verfuhren die Karikaturisten einseitig und hellsichtig zugleich. Sie korrigierten (…) Innovationen im Sinne herrschender Konventionen und verstärkten zugleich durch überspitzte Hervorhebung des Anstößigen, Neuen, Ungewohnten eben diese Züge. Die Karikatur war daher unfreiwillig innovatorisch.” (Klaus Herding, Courbets  Modernität im Spiegel der Karikatur, in Kat. Hamburg 1978)

Alfred Le Petit

 

André Gill

7) Unter den Pressionen des zweiten Kaiserreichs bildete sich eine junge, blühende Karikaturbewegung heraus, deren bildnerisches Vokabular sich unter den permanenten Herausforderungen, auf Zensurauflagen reagieren zu müssen, beträchtlich erweiterte.
Mit seinen unermüdlichen Attacken auf Napoleon III. und seine willfährige Justiz  wurde der Zeichner und Dichter Andre Gill zur zentralen Identifikationsfigur einer Künstlerboheme, die sich nach der Niederschlagung der Pariser Kommune immer weiter radikalisierte. Mit einer bizarr geklitterten und gemorphten Karikatur wie “Rocambole”, die als Verhöhnung des Kaisers ebenso populär war wie  Manets “Frühstück im Grünen”, lieferte Gill den Kubisten eine Steilvorlage für weitere Dekonstruktionen. ( André Gill, la Lune, 17.11. 1867)

André Gill

8) Die drei Abbildungen einer Kriegsausgabe der Karikaturzeitung “Le Mot” vom 1.7.1915 können als Paradebeispiel für die gleitenden Übergänge gelten, die  zwischen Kunstkarikatur (die kubistische Persiflage eines Eisernen Kreuzes von Paul Iribé)  Kunstkunst (die darauf folgende kubistische Kriegszeichnung von  Albert Gleizes) und Karikaturkunst (das Titelbild des Herausgebers Jean Cocteau, der unter dem Pseudonym Jim zeichnete) bestanden.
Es gab nur wenige Künstler der französischen Avantgarden um die Jahrhundertwende, die nicht mit dem Illustrationsgeschäft und der Karikaturbewegung verbunden waren.

Jean Cocteau Aka Jim

Paul Iribe

Albert Gleizes

9)  Dieses Titelblatt des Karikaturmagazins “Le Grelot”  vom 23. 6. 1872 veranschaulicht, wie Methoden der Dekonstruktion aus der Salonkarikatur  unter den Vorgaben von Zensurmassnahmen erfindungsreich auf die eigene Karikaturproduktionen angewandt wurden. Alfred Le Petit, ein vielseitiger Illustrator, Objektbauer und Performancekünstler ersten Ranges – ein früher Vorläufer Karl Valentins – umging hier ein Abbildungsverbot, indem er die beanstandete Karikatur in Bauhausmanier auf ihr geometrisches Skelett reduzierte und die Handlung verschriftete.

Alfred Le Petit

10) In den achtziger Jahren sammelte sich um Andre Gill und seine Nachfolger  ein illustrer Kreis von Literaten, Illustratoren, und Schauspielern, die Clubs der “Les Fumistes“Les Hydropathes” und der “Les Incohérents”, die als selbst erklärte Nichtkönner in einer ganzen Reihe von äußerst erfolgreichen Ausstellungen einen protodadaistischen Großangriff auf die Salonkultur veranstalteten mit irren Rätselbildern, linkischen Kritzeleien, objects trouvés und Montagen aller Art. Das Genre der Kunstkarikatur war damit  aus  seiner entrückten Illustriertenexistenz in das bedrohliche Stadium einer verräumlichten Realisierung gekippt, eine Entwicklung, die später nicht nur von dem heranwachsenden Künstler Marcel Duchamp studiert worden ist, sondern auch, wie Annabelle Goergen jüngst nachgewiesen hat, von André Breton.

Die Materialsammlung des MePri zu den “Les Arts Incohérents”, die von Michael Glasmeier inspiriert worden ist, beinhaltet u.a. die legendäre Mona Lisa – Montage des Universalkünstlers Eugen Bataille alias Sapeck aus  Croquelin Cadets Abhandlung über die Ursachen des Lachens “Le Rire” (1887) sowie eine umfangreiche Werkgruppe  von Emile Cohl. Der André Gill – Schüler, der als Begründer des Zeichentrickfilms gilt, war einer der Hauptinitiatoren dieser Gruppierung und einer der innovativsten Künstler der Jahrhundertwende.

 

Èmile Cohl in: André Gill ed. / Emile Cohl ed. : La Nouvelle Lune, Paris   Jhg..1880 – 83

Catalogue illustré de l´Exposition des Arts Incoherents. Paris 1886 (Faksimile Reprint Paris 2000)

Catalogue illustré de l´Exposition des Arts Incoherents. Paris 1886 (Faksimile Reprint Paris 2000)

Catalogue illustré de l´Exposition des Arts Incoherents. Paris 1886 (Faksimile Reprint Paris 2000)

Catalogue illustré de l´Exposition des Arts Incoherents. Paris 1886 (Faksimile Reprint Paris  2000)

L. Baschet ed.:  Revue Illustrée  No.31, Paris 15.3. 1887

Eugen Bataille alias Sapeck “Mona Lisa” in : Croquelin Cadet:  “Le Rire” Paris 1887

Der Beitrag wurde verfasst für das Katalobuch zur Ausstellung “Gestern oder im 2. Stock. Karl Valentin, Komik und Kunst seit 1948”, Hrsg. Michael Glasmeier und Wolfgang Till. Verlag Silke Schreiber, München 2009